Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016
Sechzehnte Szene: Polizeirevier Moritzstraße I
Monica und Wittenberg werden von einer uniformierten Polizeibeamtin in einen recht großen Warteraum geführt. Der Raum hat helle Wände, ist gut beleuchtet und auffällig sauber. Es gibt dunkelrot lackierte Metallstühle in ausreichender Zahl. Links an der Wand ein großer Coca-Cola-Automat. Im Hintergrund zwei vergitterte Fenster.
Polizistin:
Bitte, nehmen Sie hier Platz. Sie werden gleich einzeln befragt.
Monica:
Ich dulde es nicht, dass meine Hunde einfach auf den Müll geschmissen werden. Ich möchte Anastasia und Zoltan würdig bestatten. Auf dem Tiefriedhof, wie es sich gehört. ─ Haben Sie das verstanden?
Polizistin:
Das ist Ihre Privatangelegenheit, damit hat sich die Polizei nicht zu beschäftigen.
Monica:
Aber könnten Sie die toten Tiere nicht beschlagnahmen lassen, zur Not auch als Beweisstücke?
Polizistin:
Das habe nicht ich zu entscheiden.
Monica:
Meine Hunde sind umgebracht worden. Man hat sie mit Baseballschlägern erschlagen. Ist das vielleicht keine Straftat?
Polizistin:
Selbstverständlich.
Monica:
Also?
Polizistin:
Ein Mensch ist getötet worden, Frau … Das scheint Sie bedeutend weniger zu interessieren.
Monica:
Darüber weiß ich nichts. Dazu möchte ich mich nicht äußern.
Polizistin:
Sie werden sich äußern müssen.
Monica:
So? Ich denke nicht daran!
Polizistin:
Damit machen Sie sich angreifbar und verdächtig.
Monica:
Nichtigkeit.
Polizistin (zu Wittenberg, der stehengeblieben und nicht von Monicas Seite gewichen ist):
Setzen Sie sich, bitte.
Wittenberg:
Danke, ich möchte lieber stehenbleiben. ─ Wann wird die Befragung losgehen?
Polizistin:
Das werden Sie schon sehen, Herr …
Wittenberg:
Wittenberg.
Polizistin:
Herr Wittenberg, die Ermittlungen am Tatort sind meines Wissens bereits abgeschlossen. Haben Sie bitte noch etwas Geduld. Die Herren Kommissare werden sich so bald wie möglich um Sie kümmern.
Wittenberg:
Zu dem toten Rocker können wir sowieso keine Angaben oder Aussagen machen. ─ Wir kennen das Arschloch nicht einmal.
Polizistin:
Woher wissen Sie dann, dass es sich um ein Arschloch handelt, Herr Wittenberg?
Wittenberg:
Wir sind überfallen worden. Die vermummten Gestalten waren leider eindeutig in der Übermacht.
Die Polizistin wartet erst ab, ob Monica oder Wittenberg noch etwas hinzufügen möchten. Da offenbar keine weiteren, eventuell unbedachten Einlassungen mehr zu erwarten sind, lässt sie die beiden Zeugen, die vielleicht sogar Tatbeteiligte sind, allein im Warteraum zurück.
Monica:
Was meinst du, ob sie uns abhören?
Wittenberg:
Wir haben nichts zu verbergen, Monica, wir sind unschuldig.
Monica:
Aber ob sie uns abhören?
Wittenberg:
Wir sollten besser davon ausgehen und uns möglichst ruhig und distanziert verhalten.
Monica:
Du hast gut reden, Wittenberg. ─ Macht es dir denn gar nichts aus, dass Anastasia und Zoltan tot sind?
Wittenberg:
Doch, natürlich, aber ich reiße mich zusammen. Ich will mir vor den Bullen keine Blöße geben.
Monica (ihr Ausruf kommt einem Schrei recht nahe):
Ich könnte schreien vor Wut, Wittenberg, schreien!
Wittenberg:
Darauf warten sie bloß, um daran anknüpfen und alles gegen uns verwenden zu können.
Monica:
Was macht deine Schulter?
Wittenberg:
Der ganze rechte Arm ist wie taub. ─ Das Faschistenschwein hat mich voll erwischt.
Monica:
Plötzlich waren die Säufer verschwunden. ─ Was meinst du, weshalb sie uns nicht gewarnt haben?
Wittenberg:
Wir gehören eben nicht zu ihrer Clique. Außerdem hatten wir uns geweigert, an der blödsinnigen Wette für oder wider Hertha BSC teilzunehmen.
Monica:
Aber auf eine Art instinktive Solidarität unter uns Subalternen hätte ich schon gerechnet. Wenigstens wenn es gegen den gemeinsamen Feind geht.
Wittenberg:
Wer soll das sein?
Monica:
Die Macht. Die Staatsmacht.
Wittenberg:
Das ist in Deutschland leider keineswegs selbstverständlich, Monicaleben. Wir werden, ganz im Gegenteil, von frühester Kindheit an dazu dressiert, besagte autoritäre Staatsmacht zu verinnerlichen.
Monica:
Sie zu lieben und zu ehren, auch wenn der bedauerliche Fall eintreten sollte, dass sie sich gegen uns kehrt und wendet?
Wittenberg:
Genau dann haben sich Bürgersinn und Staatstreue des braven Deutschen unbedingt zu bewähren.
Monica:
Im Ausnahmezustand?
Wittenberg:
Nehmen wir kleinere Münze!
Monica:
Deiner famosen SPD jedenfalls ist die vollständige Anverwandlung an die autoritäre Staatlichkeit in Deutschland hervorragend gelungen.
Wittenberg:
Darüber unterhalten wir uns bei besserer Gelegenheit. Im Augenblick geht es einzig und allein darum, ein törichtes Hineintappen in Polizeifallen zu vermeiden.
Monica steht auf und geht langsam zu dem Coca-Cola-Automaten hinüber. Sie sieht sich die Preisschilder an.
Monica:
Eine Flasche Cola kostet 1 Euro 10, einschließlich Pfand. Ein halber Liter. Möchtest du?
Wittenberg:
Warum nicht?
Monica kommt zurück zu dem roten Stuhl, auf dem sie gesessen hatte. Sie nimmt ihr Portemonnaie aus dem Rucksack, geht wieder zu dem Automaten hinüber und kauft scheinbar seelenruhig erst die eine, dann die zweite Cola-Flasche. Die gekühlten Getränke poltern in den Ausgabeschacht.
Monica:
Du hast wieder blaue Socken zum roten Polohemd angezogen, Wittenberg.
Wittenberg:
Ist das bedenklich?
Wittenberg öffnet den Plastikverschluss seiner Coca-Cola. Er trinkt einen Schluck aus der Flasche, schüttelt den Kopf und lacht plötzlich.
Monica:
Was gibt es zu lachen, Wittenberg?
Wittenberg:
Ich habe lange Zeit keine originale Coca mehr getrunken.
Monica:
Aber was ist daran komisch?
Wittenberg:
Ich kaufe mir immer die preiswerte Cola aus dem Penny-Markt und bin an deren Geschmack gewöhnt. Jetzt, nach Wochen und Monaten, vielleicht sogar Jahren, kommt mir die „echte“ Coca-Cola wie eine billige Fälschung vor.
Monica:
Ich halte das, was du sagst, für eine weitere bedenkliche Form von Anti-Amerikanismus, mein Lieber.
Monica sucht und findet ein Buch von Sartre in ihrem Rucksack. Sie blättert bis zum letzten Drittel des Textes und beginnt zu lesen.
Wittenberg:
Eine beruhigende Wirkung kann man Sartre wenigstens nicht absprechen.
Monica:
Soll das eine Unverschämtheit sein?
Wittenberg:
Man muss sich auf Sartre einlassen, die Texte notfalls drei Mal lesen, in einer populären Form von Transzendenz. Ähnlich wie ein Golfspieler, der seinen Sonntagvormittag damit verbringt, dem verdammten kleinen Gummiball hinterherzulaufen, der wieder einmal nicht genau in die gewünschte Richtung geflogen ist.
Monica:
Merkwürdiger Vergleich.
Wittenberg:
Will sagen, dass es nützlich ist, sich bei Sartre vor defensivem Lesen zu hüten, nach der Devise: „Das brauche ich alles nicht!“
Monica:
Bei „Bewusstsein und Selbsterkenntnis“ handelt es sich um eine höchst respektable, manierliche philosophische Erörterung, die, wie sich das für französische Philosophen gehört, bei Descartes einsetzt. Aber der Verlag, der es von Reinbek immer noch nicht bis nach Hamburg geschafft hat, verkauft das Buch quasi als Pamphlet gegen Freud und dessen tiefenpsychologische Auffassung des Unbewussten.
Wittenberg:
Vermutlich hat das eine mit dem anderen wenig zu tun. Freud als Psychologe wird von Sartre wahrscheinlich zu den philosophischen oder naiven Realisten gezählt werden, also zu einer kruden ideengeschichtlichen Spezies, die ihn nicht übermäßig zu interessieren vermochte.
Monica:
Ich habe dazu eine Stelle gefunden in Sartres Vortrag; aber die Kritik richtete sich dort gegen einen anderen Psychologen.
Wittenberg:
Freud nahm für sich in Anspruch, naturwissenschaftliche Methoden in der Psychologie zur Anwendung gebracht zu haben. Und eine solche Grundhaltung bewirkt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit am Ende eine Abkehr von jeglicher Philosophie. Beispielsweise pflegte Freud den antiken griechischen Philosophen eine Überschätzung der Dialektik vorzuwerfen.
Monica:
Andererseits gibt es jedoch den Kulturphilosophen Freud.
Wittenberg:
Das lässt sich leider nicht leugnen, Monicaleben.
Monica:
Sartre hat sich bestimmt gründlicher mit Freud beschäftigt als du beispielsweise.
Wittenberg:
Am Philosophischen Institut der Technischen Universität wird Sigmund Freud als ein „toter Hund“ behandelt, wenn überhaupt.
Monica:
Wittenberg!
Wittenberg:
Entschuldige, Monica, ich habe eben wirklich nicht an Anastasia und Zoltan gedacht. Es tut mir sehr leid, bitte.
Monica:
Dummer Esel!
Wittenberg:
Verzeihung, Monica, es kommt nicht wieder vor, bestimmt nicht.
Monica:
Schon gut, Affe!
Wittenberg:
Mit Primaten hatte Professor Freud es übrigens auch. Er wollte in New York gerne einen riesigen Menschenaffen, der zu allem Überfluss auch noch eine Bibel in der erhobenen Faust halten sollte, an die Stelle der Freiheitsstatue setzen.
Monica:
Das lügst du, Wittenberg, das glaube ich dir nicht!
Wittenberg:
In Freuds Briefwechsel kannst du es nachlesen.
Monica:
Das Bild ist eine Gemeinheit, aber besser lässt sich der amerikanische Puritanismus kaum visualisieren.
Wittenberg:
Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, Freud hatte die Idee etliche Jahre, bevor „King Kong“ in die Kinos kam.
Monica:
Den Film würde ich mir gerne noch einmal anschauen.
Wittenberg:
Ein riesiger Affe, der sich in eine Frau verliebt, die aus seiner Perspektive eine Zwergin, ein Püppchen, ein Spielzeug darstellt.
Monica:
Das ist relativ klar und einleuchtend, aber richtig spannend wird es erst, wenn man den Versuch unternimmt, „King Kong“ aus der Sicht der kleinen Frau zu interpretieren.
Wittenberg:
Dafür kannst du ins Gefängnis kommen!
Monica:
Ins Gefängnis kannst du eigentlich immer kommen. — Wenn du arm bleibst in Deutschland, bist du so etwas wie ein Strafgefangener auf Urlaub. Du musst bloß noch zur falschen Zeit am falschen Ort aufgegriffen werden.
Wittenberg:
Sartre gelingt es im Verlauf seines Vortrages dann doch, sich von Descartes wieder zu lösen. Er unternimmt es, Bewusstsein und Erkenntnis voneinander zu trennen, also das eine von dem anderen zu unterscheiden. Er stellt die These auf, das „nicht-thetische Bewusstsein“ sei keine Erkenntnis.
Monica:
Kannst du dir unter „nicht-thetischem Bewusstsein“ irgend etwas vorstellen?
Wittenberg:
Man muss es interpretieren …
Monica:
Wie?
Wittenberg:
Schwer zu sagen …
Monica:
Ach?
Wittenberg:
Es wird sich wohl um ein Bewusstsein handeln, das nicht über These und Antithese zu einer Synthese fortschreitet.
Monica:
Aber verschränkst du jetzt nicht, um dir Sartre verständlicher zu machen, ganz unterschiedliche philosophische Traditionen miteinander?
Wittenberg:
Das haargenau ist die Crux in der Philosophie: Man kann keine drei Sätze formulieren, ohne sich heillos in Widersprüche zu verwickeln.
Monica:
Egal, nehmen wir ruhig etwas Hegel zur Hilfe, um Sartre besser zu begreifen.
Wittenberg:
Akzeptieren wir einfach behelfsweise Sartres philosophische Setzung eines „nicht-thetischen Bewusstseins“ und sehen zu, wie weit wir damit kommen.
Monica:
Aber was nützt uns das?
Wittenberg:
Das wird sich hoffentlich herausstellen, Monicaleben.
Monica:
Sartre gibt Beispiele an für sein „nicht-thetisches Bewusstsein“.
Wittenberg:
Immerhin.
Monica:
Die Freude, das Bewusstsein der Freude, das Bewusstsein davon, sich zu freuen, genüge vollkommen; es handele sich dabei um „wahre Freude“, auch ohne Erkenntnishaltung, ohne thetisches Bewusstsein.
Wittenberg:
In diesem Zusammenhang bezeichnet Sartre die Idee einer unbewussten Freude als „absurd“.
Monica:
Sigmund Freud wird nicht direkt angegriffen.
Wittenberg:
Wenn es um das Unbewusste geht, denken die meisten Menschen mittlerweile automatisch an Freud.
Monica:
Eine solche Auffassung von „unbewusster Freude“ oder von „unbewusstem Schmerz“ oder von „unbewusstem Zorn“ sollte man Freud meines Erachtens nicht zuschreiben. Das wäre zu simpel; das würde Freud nicht gerecht werden. Seine Fragestellung zielt eher auf die vielfältige Determinierung psychologischer Phänomene wie Lust, Freude, Schmerz, Zorn oder Angst durch das Unbewusste ab.
Wittenberg:
Für Sartre ist „Freude“ mit „Bewusstsein von Freude“ identisch. Sie seien ein und dasselbe. Und zwar in einer streng philosophischen Auslegung, auf der ontologischen Ebene, bei vorläufiger Hintanstellung aller psychologischen Gesetze.
Monica:
Hast du die DVD zurückgebracht?
Wittenberg:
Es blieb mir nichts anderes übrig; sie war vorbestellt.
Monica:
Eigentlich erfreulich, dass du nicht der einzige bist, der sich für Ereignisse interessiert, die fast 100 Jahre zurückliegen.
Wittenberg:
Ich habe Kopien angefertigt — VHS und DVD.
Monica:
Ist das erlaubt?
Wittenberg:
Es war technisch ohne Schwierigkeiten möglich, Monicaleben.
Monica:
Aber ist es nicht kriminell? Verletzt du nicht Urheberrechte?
Wittenberg:
Die Kopien sind für mich privat. Ich habe nicht vor, öffentliche Vorführungen zu veranstalten.
Monica:
Was ist es genau, Wittenberg, was dich an den alten Verbrechen der Sozialdemokratie dermaßen fasziniert?
Wittenberg:
Gemeiner Mord verjährt nicht; und politische Morde, die nicht vollständig „aufgeklärt“ — im Sinne von: politisch und moralisch verarbeitet — werden sollen, belasten untergründig das Gewissen einer Partei über Generationen hinweg. Das ist wie ein Schuldkomplex, der aus dem Unbewussten immer neue Gewaltreaktionen hervorzwingt.
Monica legt das Lesezeichen, das sie in der Hand behalten hatte, wieder zwischen die Seiten ihres Buches.
Monica:
Wittenberg, du willst behaupten, dass die Politische Psychologie der deutschen Sozialdemokratie heute noch beeinflusst und deformiert werden kann von Geschehnissen aus dem Jahre 1919? Ist das nicht aberwitzig?
Wittenberg:
Ich fürchte, das Gegenteil ist der Fall. — Wir müssen uns deshalb endlich Klarheit verschaffen.
Monica:
Aber Dutzende von Historikern haben sich über die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ihre klugen Köpfe zerbrochen. Wieso gibst du dich nicht endlich mit deren Forschungsergebnissen zufrieden?
Wittenberg:
Ich kritisiere in erster Linie die in der Regel mutwillig reduzierten Fragestellungen des akademischen Betriebs.
Monica:
So?
Monica legt das Taschenbuch auf einen Stuhl, dann sucht sie in ihrem Rucksack nach Papiertaschentüchern.
Wittenberg:
Über den äußeren Ablauf des Geschehens, über die Chronologie der Ereignisse wissen wir einigermaßen Bescheid. Dazu bietet die Fernsehdokumentation aus dem Jahre 1969 eine solide Grundlage. Die Autoren haben gründlich recherchiert. Vor allem hatten sie die Gelegenheit zu nutzen gewusst, den Hauptmann Waldemar Pabst zu befragen.
Monica:
Nie gehört. — Wer ist das?
Wittenberg:
Das fragst du jetzt höflichkeitshalber?
Monica:
Wenn du es so auffassen möchtest, Wittenberg, aber erzähle trotzdem ruhig weiter. — Ich lerne gerne dazu, wie du vielleicht schon weißt.
Wittenberg:
Hauptmann Waldemar Pabst war der Erste Generalstabsoffizier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division ─ und der geborene Konterrevolutionär.
Monica:
Das klingt unheimlich, aber leider auch beeindruckend, Wittenberg: Der eine, einzige rechte Mann zur richtigen Zeit am entscheidenden Ort, der die halbherzige deutsche Novemberrevolution nebst Spartakusaufstand im Keime zu ersticken wusste.
Wittenberg:
Nach dem sattsam bekannten Motto: „Männer machen Geschichte.“
Monica:
Da ist was dran, Wittenberg, meinst du nicht?
Wittenberg:
Aber der Hauptmann Pabst hatte sogar mehrere Köche bei sich, Monicaleben.
Monica:
Also gut, erzähle mir, was du herausgefunden hast; die Kripo scheint auf sich warten zu lassen.
Wittenberg:
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hielten sich in Wilmersdorf, in der Mannheimer Straße 43, nicht weit entfernt vom Fehrbelliner Platz, und zwar ausgerechnet in der Wohnung des befreundeten Ehepaares Siegfried und Wanda Marcusson auf. Marcusson war Kaufmann von Beruf, Mitglied der USPD und gehörte dem Arbeiter- und Soldatenrat Wilmersdorf an. — Du verstehst, was ich sagen will? Unsere beiden wichtigsten deutschen Revolutionsführer versteckten sich nicht etwa nach den Elementarregeln der Konspiration getrennt voneinander an unbekannten Orten, sondern sie hockten gemeinsam bei Freunden, mitten in der Stadt, wo die Konterrevolution sie vermuten konnte und endlich bloß noch abzuholen brauchte. Ich denke, es muss nicht extra betont werden, dass „Rosa und Karl“ nicht bewaffnet waren. Sie verzichteten auch auf Personenschutz, etwa durch Angehörige der Volksmarinedivision.
Monica:
Es klingt nicht besonders sympathisch, wie du das sagst, Wittenberg.
Wittenberg:
Schließlich und endlich ist es nicht meine Aufgabe, besonders sympathisch zu klingen.
Monica:
Erzähle weiter, Wittenberg, immer weiter.
Wittenberg:
Es kam, wie es kommen musste. Die beiden Spartakistenführer wurden ausgerechnet von der Wilmersdorfer Bürgerwehr verhaftet. Einen Haftbefehl gab es nicht; die Verhaftung war illegal. Spätere staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen Freiheitsberaubung verliefen erwartungsgemäß im Sande.
Monica:
Und dann?
Wittenberg:
In der Cecilienschule am Nikolsburger Platz, einer Höheren Lehranstalt für Mädchen, benannt nach der Herzogin Cecilie zu Mecklenburg, Gemahlin des Prinzen Wilhelm von Preußen, des ältesten Sohnes von Kaiser Wilhelm II., und damit Kronprinzessin, hatte sich die Wilmersdorfer Bürgerwehr eine Wache eingerichtet. Dorthin wurden Karl Liebknecht und später auch Rosa Luxemburg zunächst verbracht.
Monica:
„… wurden verbracht …“ — wie sich das anhört, Wittenberg, eine karge Sprache aus einer anderen, fast vergessenen Zeit.
Wittenberg:
Die Bürgerwehr unterrichtete die Reichskanzlei telefonisch von der Verhaftung Liebknechts. — Im Grunde müssten wir hier bereits innehalten, um uns diese fabelhafte Wilmersdorfer Bürgerwehr genauer anzuschauen. Und zwar unter der provozierenden Fragestellung, ob kleinbürgerliche, vielleicht sogar sozialdemokratische Elemente in ihr vorherrschend oder tonangebend waren.
Monica:
Wundern würde mich das nicht, im Gegenteil, das aufstrebende bürgerliche Wilmersdorf vor der Eingemeindung in Groß-Berlin muss wie geschaffen gewesen sein als keimiger reformistischer Nährboden.
Wittenberg:
Weißt du auch, woran man ein bürgerliches Stadtquartier erkennt?
Monica:
An Bauwerken, an Straßen und Plätzen?
Wittenberg:
Das sicherlich auch, aber das meine ich nicht …
Monica:
Sondern?
Wittenberg:
In Wilmersdorf gibt es die fettesten Straßentauben.
Monica:
Knalltüte!
Wittenberg:
Jeder der acht an der Verhaftung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg beteiligten Bürgerwehrmänner erhielt von Herrn Fabian, dem Vorsitzenden des Bürgerrates von Wilmersdorf, ein großzügig bemessenes Kopfgeld in Höhe von 1.700 Mark.
Monica:
Das muss für damalige Zeiten eine enorme Summe blutigen Geldes gewesen sein.
Wittenberg:
Der Bürgerrat von Wilmersdorf hatte nichts mit den Berliner Arbeiter- und Soldatenräten gemein. Vielmehr handelte es sich um eine Gliederung oder um eine Sektion des konterrevolutionären Reichsbürgerrates des Bankiers und Millionärs Marx.
Monica:
Wie ausgesprochen ärgerlich, dass der Dreckskerl ausgerechnet „Marx“ heißen musste!
Wittenberg:
Die acht Konterrevolutionäre der Wilmersdorfer Bürgerwehr bekamen also insgesamt 13.600 Mark Belohnung ausbezahlt. Ihre Namen sind bekannt. Drei von ihnen waren Kaufleute. Ihr Anführer, Bruno Lindner, soll nach einiger Zeit noch mehr Geld erhalten haben.
Es hatte, keineswegs nebenbei bemerkt, schon vor der entscheidenden, illegalen Festnahme vom Januar 1919 eine weitere, besondere Art Verhaftung der beiden berühmten Spartakisten gegeben. Das ist beinahe vollständig in Vergessenheit geraten. Bereits im Dezember 1918 gerieten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, gemeinsam mit Paul Levi, in die Gewalt einer Abteilung des Freikorps-Regiments „Reichstag“ und wurden mit dem Tode bedroht. Diese Abteilung stand unter dem Kommando eines Bauleiters namens Hasso von Tyska, der als „geistesgestört“ bezeichnet wird. Als Retter in der Not tauchte gerade noch rechtzeitig eine Abteilung der „Sicherheitswehr“ des unabhängig-sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Eichhorn auf.
Monica:
Wittenberg, das alles klingt für meinen Geschmack viel zu sehr nach „Räuberpistole“. Erzähle mir lieber mehr von Prinzessinnen und Prinzen und darüber, wie sehr sie sich um ihr armes Volk sorgten und grämten.
Wittenberg:
Um bezahlbaren Wohnraum?
Monica:
Zum Beispiel.
Wittenberg:
„Rosa und Karl“ kamen glücklicherweise durch die militante Intervention von Erich Prinz wenigstens vorübergehend wieder frei. Das war der Anführer jener kämpferischen Abteilung „Sicherheitswehr“ und sicherlich eine der abenteuerlichsten, zwielichtigsten Figuren der Deutschen Revolution. — Auch mit dieser etwas merkwürdigen, unorthodoxen historischen Persönlichkeit sollte man sich vielleicht beschäftigen.
Monica:
Der Mann hätte doch zumindest zu DDR-Zeiten eine gewisse Anerkennung erfahren müssen. Als Lichtgestalt, als Partisan, als Held, als Retter — als der mutige Befreier von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht!
Wittenberg:
Davon ist mir nichts bekannt, Monica, ich sehe, die offenen Fragen häufen sich. — Prinz war Kunstmaler und spielte eine dubiose Rolle im Zusammenhang mit dem Skandal um das Kopfgeld, das Scheidemann angeblich auf die Häupter von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ausgesetzt haben sollte.
Monica:
Wieviel?
Wittenberg:
100.000 Mark.
Monica:
Und stimmt das?
Wittenberg:
Nein.
Monica:
Aber zuzutrauen wäre den Sozis so etwas schon, oder?
Wittenberg:
Prinz und dessen Freundin Hilde Plaumann hatten das Dokument und die Unterschriften gefälscht.
Monica:
Wie bei den Hitler-Tagebüchern?
Wittenberg:
So ungefähr. Hilde schrieb das Dokument, und Erich fälschte die Unterschriften.
Monica:
Was wurde aus der Frau?
Wittenberg:
Sie beging später Selbstmord mit einer Überdosis Kokain.
Monica:
Wittenberg, schadet es nicht deiner psychischen Gesundheit, wenn du dich zu sehr in solche historischen Dinge vergräbst? Meiner Meinung nach grenzt das an Totenbeschwörung und Wiedergängertum.
Wittenberg:
Der hohe Sozialdemokrat Scheidemann war viel zu vorsichtig und zu gerissen, um sich auf eine dermaßen plumpe Kopfgeldgeschichte einzulassen. Sein Schwiegersohn jedoch hatte bedeutend weniger Bedenken. Er hieß Fritz Henck und gilt als Mitbegründer des nur scheinhaft demokratischen Regiments „Reichstag“, das, wie gesagt, vom Reichsbürgerrat großzügig bezuschusst wurde und in dem auch Sozialdemokraten kommandieren durften. Henck konnte es einfach nicht lassen. Immer wieder verkündete er, Scheidemanns ominösen Kopfgeld-Befehl gebe es wirklich.
Monica:
Weiter, Wittenberg, was passierte nach der deprimierenden Episode mit der Wilmersdorfer Bürgerwehr?
Wittenberg:
Zur Vorgeschichte möchte ich der Vollständigkeit halber noch die Gebrüder Sklarz erwähnen. Das waren stadtbekannte Schieberpersönlichkeiten, die aber immer wieder die Nähe der wirklich Mächtigen suchten und wie selbstverständlich auch fanden. Sie sollen an der Finanzierung des im Kern reaktionären Regiments „Reichstag“ beteiligt gewesen sein.
Monica:
Der Name Sklarz ist mir nicht völlig unbekannt; er weckt Erinnerungen an längst vergessen geglaubte Gespräche im Familienkreis mit Onkeln und Tanten, Großonkeln und Großtanten. Der Großvater meines Vaters …
Wittenberg:
Dein Urgroßvater?
Monica:
Er war im Ersten Weltkrieg bei der Marine, auf einem Torpedoboot.
Wittenberg:
Und?
Monica:
Wenn darauf die Rede kam, ergänzten die Damen der Familie wie aus der Pistole geschossen: „Aber ordnungsgemäß entlassen!“ ─ Opa Heinrichs ganz persönliche „schwarze Bestie“ aus dieser Zeit war ein Herr Stadtler, seines Zeichens Vorsitzender der Anti-Bolschewistischen Liga.
Wittenberg:
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, sowie übrigens auch Wilhelm Pieck, wurden schließlich von vier Bürgerwehrgestalten dem Generalstab der Garde-Kavallerie-Schützen-Division überstellt; das geschah am Mittwoch, dem 15. Januar 1919, zwischen 1/2 10 und 10 Uhr abends. Mit der ersten Fuhre wurde Dr. Karl Liebknecht vom Nikolsburger Platz her gebracht. Danach kehrten die furchtbaren Kollaborateure zurück in die Mannheimer Straße. Sie transportierten auch Dr. Rosa Luxemburg und Tischler Wilhelm Pieck zunächst einmal zur Cecilienschule, möglicherweise, um sich neue Instruktionen zu holen. Heinz Knobloch berichtet in seinem Buch über „Das unauffällige Leben der Mathilde Jacob“, der Zwischenaufenthalt in der Höheren Mädchenschule habe etwa 20 Minuten gedauert.
Der Erste Generalstabsoffizier der GKSD war, wie gesagt, der ebenso gefährliche wie verlogene Hauptmann Waldemar Pabst. Das Hauptquartier des Weißen Terrors befand sich neuerdings im noblen Eden-Hotel, gegenüber vom Zoologischen Garten, auf dem östlichsten Teilstück des Kurfürstendamms, das heute merkwürdigerweise Budapester Straße genannt wird. Hauptmann Pabst bekam also seine intelligentesten Feinde von den tumben Mannschaften der Wilmersdorfer Bürgerwehr praktisch auf dem silbernen Tablett serviert.
Die Fernsehdokumentation von Dieter Ertel ist nun besonders darauf angelegt, die nachfolgenden Ereignisse als ein Offiziers-Komplott erscheinen zu lassen. ─ Das ist meines Erachtens nicht verkehrt, offenbart aber bestenfalls die halbe historische Wahrheit.
Monica:
Aber lass uns zunächst weiter die Tatsachen nachvollziehen, Wittenberg, die wilden Spekulationen können wir hinterher anstellen!
Wittenberg:
Was folgte, war ein eiskalt geplanter und anschließend mit kleinen Fehlern durchgeführter Doppelmord.
Monica:
So einfach ist das?
Wittenberg:
Hauptmann Pabst organisierte in der in Rede stehenden Nacht zwei Gefangenentransporte, die angeblich zum Moabiter Gefängnis abgehen sollten.
Führer des ersten Transportes war der Kapitänleutnant Horst von Pflugk-Harttung. Er hatte den Befehl, den offenen Wagen mit Karl Liebknecht im Fond durch den Tiergarten fahren zu lassen. Dort wurde von dem Fahrer eine Autopanne vorgetäuscht. Der Kapitänleutnant fragte den durch einen Kolbenschlag des Jägers Runge und durch Faustschläge des Oberheizers von Rzewuski geschwächten Liebknecht, ob der sich in der Lage sehe, den Weg nach Moabit fürs erste zu Fuß fortzusetzen. Karl Liebknecht bejahte das, stieg aus und bewegte sich in die angewiesene Richtung. Zwischen dem Neuen See und der Charlottenburger Chaussee wurde er dann von Kapitänleutnant Horst von Pflugk-Harttung und weiteren Marineoffizieren hinterrücks und heimtückisch, angeblich auf der Flucht erschossen. Drei Schüsse trafen ihn; er war sofort tot. Der Wagen, ein NSU, stand hernach selbstverständlich voll funktionstüchtig wieder zur Verfügung. Liebknechts Leiche wurde von seinen Mördern als die eines „unbekannten Spartakisten“ auf einer Rettungsstation gleich gegenüber vom Eden-Hotel abgeliefert. Sie war etwa dort eingerichtet worden, wo sich heute das Elefantentor zum Zoo befindet.
Der Führer des zweiten Transportes war der berühmte Oberleutnant Kurt Vogel. Er stand in dieser Nacht als Verbindungsoffizier zu der Wilmersdorfer Bürgerwehr dem Hauptmann Pabst zur Verfügung. Vogel galt als zuverlässig und ergeben; außerdem hatte er einen brauchbaren Wagen und einen eigenen Chauffeur dabei. Als Bedeckung fungierten ein paar Mann aus Pabsts Stabswache.
Der Hauptmann Pabst war keineswegs ein Schwachkopf. Es brauchte ihm niemand zu erklären, dass der frühdemokratischen Öffentlichkeit zur Verschleierung der Ermordung der Rosa Luxemburg eine andere, bessere Geschichte aufgetischt werden müsste als die vergleichsweise schlichte Lüge von der „Erschießung auf der Flucht“ im Falle Liebknecht. Niemand würde der GKSD abkaufen, dass eine kleine, behinderte, nicht mehr ganz junge Frau einem Trupp kampferprobter Soldaten habe entlaufen wollen und können.
Monica:
Wie stellst du dir das vor, Wittenberg, glaubst du ernsthaft, bei allem, was man, etwas hochtrabend vielleicht, „historische Erkenntnis“ nennen könnte, komme es in erster Linie darauf an, wer die bessere Geschichte zu erzählen habe?
Wittenberg:
In wenigen Jahren sehen wir uns mit dem 100. Todestag von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht konfrontiert. Die kaltblütig organisierte und durchgeführte Ermordung der beiden bedeutenden Führer des deutschen Kommunismus‘ jährt sich zum hundertsten Male. Und trotz der sicherlich ausreichend großen zeitlichen Distanz gibt es nach wie vor Unklarheiten über die politischen Hintermänner des Hauptmannes Pabst und seiner Garde-Kavallerie-Schützen-Division.
Monica:
Vornehmlich verantwortlich dafür sind deiner Ansicht nach — die Geschichtenerzähler?
Wittenberg:
Waldemar Pabst ist erst 1970 gestorben. Er hat jahrzehntelang auch und gerade, wenn er redete, seine Schnauze gehalten. Er wurde niemals angeklagt, geschweige denn verurteilt und bestraft.
Monica:
Er war also ein guter Geschichtenerzähler?
Wittenberg:
Einer der besten, Monica, man kann manches von ihm lernen.
Monica:
Die Leiche der Rosa Luxemburg hat er in den Landwehrkanal schmeißen lassen, der verdammte Kackstiefel!
Wittenberg:
Das war keineswegs Pabsts Idee!
Monica:
Nein?
Wittenberg:
Nein, das hat, nach allem, was wir zu wissen glauben, der Oberleutnant Vogel veranlasst.
Monica:
Ob nun Vogel oder Pabst — macht das einen Unterschied?
Wittenberg:
Das macht einen himmelweiten Unterschied aus, Monicaleben.
Monica:
Wittenberg, wie kannst du so verflucht sicher sein, dass ausgerechnet deine Version der Geschichte die richtige ist?
Wittenberg:
Rosa Luxemburg wurde erschlagen, verprügelt, erschossen und ertränkt.
Monica:
Wittenberg, wenn du wieder maßlos übertreibst, dann glaubt dir doch kein Mensch, und alles Forschen und Grübeln war vergebens.
Wittenberg:
Hauptmann Pabst hatte einen halbwegs plausiblen Lügenroman ausgeheckt. Er imaginierte eine erregte Menschenmenge, unverhofft aufgetauchte, unbekannte Elemente in großer Zahl, die es der Begleitmannschaft schwierig bis unmöglich gemacht hätten, die Situation um den Gefangenentransport unter Kontrolle zu halten.
Der Wagen wird in Pabsts Szenarium umringt von der aufgeputschten Volksmenge und zum Anhalten gezwungen. Wenig später werde jemand aus dem „erregten Menschenknäuel“ auf das Trittbrett aufspringen und die Luxemburg erschießen. Entscheidend sei, dass der Mann so schnell aufspringe, schieße und wieder abspringe, dass niemand ihn beschreiben könne. Das dürfte, so der Hauptmann, bei Nacht und Dunkelheit kein Problem sein.
Monica:
Aber das ist doch vollkommen unglaubwürdig. Wer sich einem in rascher Fahrt befindlichen Militärfahrzeug in den Weg stellt, der riskiert sein Leben.
Wittenberg:
Vor allem war das Hotel weiträumig abgesperrt und abgesichert. Indes, die Untergebenen Pabsts zeigten sich mit der ihnen aufgetischten, etwas hanebüchenen Story zufrieden und gingen gehorsam ans Werk. Zunächst einmal wurde ein Freiwilliger gesucht und gefunden, dem die Hauptrolle des unbekannten Pistolenschützen auf dem Trittbrett zu spielen als Ehre galt.
Monica:
Der Mörder?
Wittenberg:
Einer der Mörder.
Monica:
Wie viele waren es denn?
Wittenberg:
Mindestens vier — nach meiner persönlichen Berechnung.
Monica:
Vielleicht solltest du lieber Krimis schreiben, Wittenberg, mit besonderer Berücksichtigung der Dialogführung.
Wittenberg:
Es ist sogar möglich, wie nach deutschem Recht unerlässlich, die individuellen Tatbeiträge anzuführen.
Monica:
Also schön, Wittenberg, ich bin ganz Ohr.
Wittenberg:
Wir befinden uns vor dem Hauptportal des Eden-Hotels, gegen 11 Uhr 30 abends. Die eindrucksvolle Drehtüre war mittlerweile ausgehoben worden. Täter Nr. 1 tritt auf den Plan. Er war von dem Hauptmann Petri, Eisenbahnreferent der GKSD, angestiftet und bezahlt worden — und zwar ohne das Wissen von Hauptmann Pabst. Es handelt sich um den Jäger, später Husar, Otto Wilhelm Runge. Der hatte schon Karl Liebknecht hinterrücks einen Kolbenschlag versetzt. Jetzt schlug er mit voller, mörderischer Wucht mit dem Gewehrkolben auf Rosa Luxemburgs Kopf ein. Die kleine Frau fiel bewusstlos hintenüber; sie verlor dabei einen Schuh und ihre Handtasche. Runge versetzte der auf dem Trottoir Liegenden einen zweiten heftigen Schlag mit dem Gewehrkolben. Oberleutnant Vogel, der Verantwortliche für den Transport, hatte Rosa Luxemburg den Vortritt aus dem Hotel gelassen. Er schritt erst ein, als Runge zu einem dritten Kolbenschlag ausholen wollte.
Monica:
Aber deswegen ist der Jäger Runge noch lange kein Mörder, oder?
Wittenberg:
Kolbenschläge gegen den Kopf können, wie jeder Soldat weiß, tödliche Folgen haben. Im konkreten Fall müssen wir ausgehen von: Bewusstlosigkeit, Gehirnerschütterung und eventuell von intrakraniellen Blutungen.
Die Besinnungslose wurde nun von der ekelhaften Soldateska in das bereitstehende Militärfahrzeug geschleift. Täter Nr. 2, Edwin von Rzewuski, Mitglied der Wilmersdorfer Bürgerwehr und Oberheizer a. D., mischte sich abermals ein. Er sprang auf ein Trittbrett des Wagens — vermutlich auf das rechte — und versetzte der wehrlosen Rosa Luxemburg einige Faustschläge ins Gesicht. Anschließend sprang er wieder ab.
Monica:
Das dreckige, feige Schwein! — Aber einen Mord wirst du ihm kaum nachweisen können, nicht wahr?
Wittenberg:
Wir untersuchen einen Mord mit den Tatbeiträgen mehrerer Täter.
Monica:
Wer? „Wir“?
Wittenberg:
Die selbsternannte „Historische Kommission zur Untersuchung der Kriminalgeschichte der deutschen Sozialdemokratie“.
Monica:
Wow!
Wittenberg:
Der Schuss fiel, als sich Vogels offener Wagen der Marke „Priamus“ oder „Phaeton“ weniger als 100 Meter vom Hotel entfernt hatte, etwa auf der Höhe der Nürnberger Straße.
Monica:
Wer hat geschossen?
Wittenberg:
Darüber waren die Gelehrten naturgemäß lange Jahre unterschiedlicher Auffassung.
Monica:
Aber ausgerechnet du hast das Rätsel gelöst?
Wittenberg:
Weißt du übrigens, dass es Frauen gibt, die mich, was das Aussehen anbelangt, mit Cary Grant vergleichen?
Monica:
Angeber!
Wittenberg:
Täter Nr. 3 war sehr wahrscheinlich der Leutnant zur See Hermann W. Souchon. Der hatte sich seinem Hauptmann Pabst als Freiwilliger für die Exekution der Rosa Luxemburg zur Verfügung gestellt. Er sprang auf das linke Trittbrett des Transportfahrzeugs auf. Zuerst versagte seine Pistole, eine Mauser, Kaliber 7,65 mm. Dann schoss er Rosa Luxemburg in die Schläfe. Der Schuss trat links vor dem Ohr ein und auf der gegenüberliegenden Seite etwas tiefer wieder aus. Die Schädelbasis des Opfers wurde aufgesprengt, der Unterkiefer durchtrennt. Der Obduzent, der Geheime Medizinalrat Prof. Dr. Straßmann, bekundete, Rosa Luxemburg sei sofort tot gewesen. Als Todestag und Todeszeitpunkt dürfen festgehalten werden: der 15. Januar 1919, 23 Uhr 45.
Monica:
Wittenberg, du erzählst mir die traurige Geschichte, als wärest du dabei gewesen. — So etwas kannst du nicht machen; das ist verrückt; du bist doch kein geschichtliches Weltgewissen.
Wittenberg:
Den Leutnant zur See Souchon hatte Dieter Ertel 1969 in seiner Fernsehdokumentation als mutmaßlichen Mörder von Rosa Luxemburg benannt. Damals lebte Souchon noch. Er zog gegen das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen, gegen SDR/SWR, vor Gericht. Er gab dabei zu, an dem Transport beteiligt gewesen zu sein. Aber er bestritt, den tödlichen Schuss abgegeben zu haben.
Monica:
Vermutlich hatte ihm ein Vögelchen gezwitschert, dass Mord keineswegs verjähre.
Wittenberg:
Ich glaube nicht einmal, dass Souchon sich vor Bestrafung fürchtete.
Monica:
Nein?
Wittenberg:
Er wollte einfach keinen ehrenrührigen demokratischen Kotzflecken auf seiner bislang makellosen Offiziersweste dulden.
Monica:
Du hattest mir gleich vier Mörder versprochen, Wittenberg!
Wittenberg:
In dem Prozess vor dem Feldkriegsgericht, dem Sondergericht mit Exzellenz Generalleutnant von Hofmann, dem Chef der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, als „Gerichtsherren“, der im Mai 1919 von Vorgesetzten und Gesinnungsgenossen der Täter im Schwurgerichtssaal des Moabiter Kriminalgerichtes als grottenschlechte Justizkomödie inszeniert werden durfte, wurde der Zeuge Hermann Souchon zum Fall Luxemburg gar nicht erst vernommen. Er sagte im Prinzip nur aus, dass er an dem Transport von Karl Liebknecht nicht beteiligt gewesen sei. Dann wurde er vereidigt und war entlassen.
Monica:
Wittenberg, wenn du mir die Bemerkung gestatten möchtest: Es wird in deiner Erzählung nicht immer deutlich, wann die Lügen des Hauptmannes Pabst enden und wo die Wirklichkeit beginnt. — Nehmen wir den vermutlich tödlichen Schuss in den Kopf von Rosa Luxemburg zum Exempel. Meiner Ansicht nach stellst du das viel zu dramatisch dar. Als eine Art Abenteuerroman. Oder als Hollywoodfilm. Wenn ich dich richtig verstanden habe, war das Transportfahrzeug voll besetzt. Fahrer, Beifahrer, Oberleutnant Vogel; Rosa Luxemburg saß betäubt, bewusstlos auf der Rückbank, rechts und links neben ihr zwei Bewacher.
Wittenberg:
Es liegt eine Skizze bei den Gerichtsakten, die das Arrangement zu bestätigen scheint.
Monica:
Und nun stelle dir die Szene noch einmal bildlich vor, aber bitte mit kritischer Distanz zu den eigenen Imaginationen. Der Todesschütze kann unmöglich auf den fahrenden Wagen aufspringen, meinetwegen auf das linke Trittbrett, schießen und wieder abspringen, ohne dabei sich selbst und vor allem seine Mordkomplizen zu gefährden. Er hätte leicht den rechts von Rosa Luxemburg sitzenden Kameraden treffen können. Eine unkontrollierte, plötzliche, heftige Lenkbewegung des Fahrers, eine gewisse Unebenheit der Straße hätte vielleicht schon ausgereicht. Das Risiko wäre einfach zu groß gewesen.
Wittenberg:
Medizinalrat Straßmann hat eine Bemerkung, die genau darauf abzielt, in seinen Obduktionsbericht geschrieben. Offenbar war auch er mit den phantastischen Erfindungen der GKSD konfrontiert worden. — Ich habe der Marginalie wahrscheinlich nicht die gebührende Aufmerksamkeit gezollt.
Monica:
Wir müssen Tempo, wir müssen Geschwindigkeit aus der Geschichte nehmen, sonst wird das alles nichts.
Wittenberg:
Den Film langsamer ablaufen lassen …
Monica:
… möglichst in Zeitlupe!
Wittenberg:
Du meinst also …
Monica:
Ich meine, Vogel und Souchon haben sich verabredet. Der Leutnant zur See Souchon wartete Kurfürstendamm, Ecke Nürnberger Straße auf den Luxemburg-Transport. Oberleutnant Vogel ließ langsam fahren, vielleicht sogar kurz anhalten. Souchon stieg in aller Ruhe auf das besagte Trittbrett. Ein Transportbegleiter, der dort wohl schon stand, machte Platz; die Soldaten neben Rosa Luxemburg rückten beiseite; der rechts neben ihr wird sich nicht nur nach außen, sondern vor allen Dingen nach vorne bewegt haben. Dann erst schoss Souchon. Beim ersten Versuch versagte seine Pistole. „Typisch Marine!“ hätte mein Vater dazu gesagt. Der zweite Schuss war ein Volltreffer. — Auf kürzeste Distanz treffen sogar Matrosen, wenn das Wetter mitspielt.
Wittenberg:
Damit hätten wir nicht nur Täter und Mordmotiv, sondern auch den Tatort.
Monica:
Wir reden wie Detektive oder wie Kriminalisten, und das zu allem Überfluss auch noch auf dem Polizeirevier Moritzstraße, Berlin-Spandau.
Wittenberg:
Im Mittelpunkt des immerhin vorhandenen öffentlichen Interesses stand damals, neben dem Kolbenschläger Runge, eindeutig Oberleutnant a. D. Vogel, als charakterköpfiger Truppführer beim Abtransport von Rosa Luxemburg. Er war bereits im Februar 1919 von Leo Jogiches in einem sensationellen Artikel in der „Roten Fahne“ als Mörder der Rosa Luxemburg verdächtigt worden.
Monica:
Aber er hat es nicht getan?
Wittenberg:
Er hat als verantwortlicher Offizier den Mord an seiner Schutzbefohlenen auch nicht gerade verhindert. Von ihm stammte die saublöde Idee, die Leiche der Rosa Luxemburg nach nur kurzer Fahrt in der Nähe der Lichtensteinbrücke in den Landwehrkanal werfen zu lassen.
Monica:
War Rosa Luxemburg zu dem Zeitpunkt nicht bereits tot? Du hast es eben selber unbedacht gesagt: „… die Leiche der Rosa Luxemburg …“
Wittenberg:
Für mich ist Oberleutnant Vogel der Täter Nr. 4. Er konnte nicht genau wissen, ob der Pistolenschuss seines Komplizen Souchon zum sofortigen Tod von Rosa Luxemburg geführt hatte.
Monica:
Er hätte also nach deiner Lesart eine schwer verletzte Frau ins Wasser werfen und ertränken lassen?
Wittenberg:
Es könnte so gewesen sein, Monicaleben.
Monica:
Mittäterschaft, Beihilfe, Beihilfe nach der Tat, Begünstigung, das Beiseiteschaffen einer Leiche, Pflichtverletzung als Wachhabender ─ ein Unschuldslamm sieht anders aus.
Wittenberg:
Hauptmann Pabst war außer sich. Er drohte dem Oberleutnant, der nicht einmal zu seinem Stab gehörte, dienstliche, dienstrechtliche Konsequenzen an.
Monica:
Warum denn? Die Luxemburg war doch auftragsgemäß vom Leben zum Tode gebracht worden.
Wittenberg:
Erstens wegen der brutalen Kolbenschläge des Jägers Runge: Vogel hätte das verhindern müssen, damit nicht von Anfang an die GKSD als undisziplinierter Haufen von Landsknechten unter Mordverdacht geriete. Zweitens: Pabst wäre es nicht im Traume eingefallen, Rosa Luxemburg quasi vor den Haustüren des Eden-Hotels, um die Ecke, beim Tiergarten, kurz vor der Lichtensteinbrücke, in den Landwehrkanal hineinschmeißen zu lassen.
Monica:
Er hätte einen weiter entfernt gelegenen Tatort bevorzugt?
Wittenberg:
Außerdem gab es Zeugen, nämlich die Brückenwache, befehligt von Hauptmann Weller.
Monica:
Aber …
Wittenberg:
Was – aber?
Monica:
Eigentlich …
Wittenberg:
Oder auch uneigentlich …
Monica:
… wolltest du einen kleinen Beitrag zur Kriminalgeschichte der SPD leisten. Bislang jedenfalls konntest du nur den Hauptmann Pabst, dessen Offiziere und Mannschaften belasten. ─ Das ist unbefriedigend, wenn ich dir das direkt so sagen darf.
Wittenberg:
Es kömmt nunmehr darauf an, den Genossen Ebert in einem völlig neuen Lichte zu betrachten.
Monica:
Ebert? Nicht Noske?
Wittenberg:
Ebert, vor allen Dingen Ebert, nach dem in Deutschland leider noch immer Straßen und Plätze benannt sind.
Monica:
Ebert der Schurke, der sich mit konterrevolutionären Killern gegen die eigenen Genossinnen und Genossen verbündet hat?
Wittenberg:
Ebert ist 1925 gestorben. Hindenburg wurde sein Nachfolger. Hindenburg gilt als böse, weil er Hitler zum Reichskanzler ernannt hat. Aber Ebert ist nachgeborenen Generationen seltsamerweise als guter Kerl in Erinnerung geblieben, obwohl er dafür verantwortlich zu machen ist, dass die angebliche „Revolutionsregierung“ sich mit den restlos kompromittierten Repräsentanten des alten Regimes, mit der Obersten Heeresleitung, mit Hindenburg und Ludendorff, zudem mit kaisertreuen Fronttruppen und Freikorps verbündete, also dafür Sorge trug, dass monarchistische, konterrevolutionäre Militärs die Macht im republikanischen Staatswesen an sich reißen durften.
Monica:
Mit Widersprüchen dieses Kalibers ist schwerlich umzugehen, was, Wittenberg? Aber wie steht es mit handfesten, konkreten Beweisen, dass die sozialdemokratische Parteiführung so weit ging, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zum Abschuss freizugeben?
Die uniformierte Polizistin kommt zurück in den Warteraum.
Polizistin:
Ich freue mich, dass Sie offenbar wohlauf und bei bester Laune sind. Gegen Tote wird, wie Sie vielleicht wissen, von Amts wegen nicht mehr ermittelt. Also lassen Sie den verstorbenen Reichspräsidenten Ebert am besten in Frieden ruhen. ─ Darf ich zuerst Sie bitten, Herr Wittenberg, die Kriminalpolizei hat einige vordringliche Fragen an Sie zu richten.
Wittenberg:
Werde ich als Zeuge befragt oder als Verdächtiger verhört?
Polizistin:
Das kommt darauf an.
Wittenberg:
So? Das kommt also darauf an?
Polizistin:
Sie sagen es, Herr Wittenberg.
Wittenberg:
Ich sage es, weil Sie es sagen.
Polizistin:
Es hat Gespräche mit der Polizei gegeben, die begannen als Befragung, wandelten sich innerhalb kürzerer oder längerer Zeit zum Verhör und endeten mit vorläufiger Festnahme und Vorführung beim Haftrichter.
Wittenberg:
Soll das eine Drohung sein, Madame?
Polizistin:
Aber nein, ich beantworte nur Ihre Frage, Herr Wittenberg, weiter nichts.
Monica:
Denke immer selber daran, was du mir geraten hast, Wittenberg: Schnauze halten!
Polizistin:
Ich möchte bezweifeln, dass das eine vorteilhafte Überlebensstrategie darstellt, Frau …
Monica:
Monica, nennen Sie mich bitte einfach Monica.
31. Oktober 2016