Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016
„… der keinez lebet âne haz.“ (Walther von der Vogelweide)
„Wenn man erkannt hat, dass etwas unwahr, unsauber, ungut ist, muss man sich davon distanzieren. Ohne tiefgründige Abneigung, aber entschieden!“ (Curt Goetz)
„Aufführungen vor Publikum rufen erfahrungsgemäß nichts als moralische Affekte für gewöhnlich minderer Art beim Publikum hervor.“ (Bertolt Brecht)
Erste Szene: Moritzstraße
Monica und Wittenberg haben es sich in der Spandauer Altstadt auf einer großen, bunten Decke gemütlich gemacht. Dicht bei ihnen liegen ihre beiden Wolfshunde, Zoltan und Anastasia. Rotwein und Zigaretten sind ausreichend vorhanden; eine Konzertgitarre und ein CD-Player stehen zur Verfügung. Im Hintergrund eine Hausfassade, zentral und rechts eine imposante Apotheke, links ein eher schlichter Second Hand Shop. Die Umgebung bildet eine kleinstädtisch anmutende Fußgängerzone, wie sie in den siebziger Jahren des XX. Jahrhunderts seltsamerweise für zeitgemäß gehalten worden ist.
Monica: Neulich bin ich mit der U-Bahn gefahren …
Wittenberg: Schwarz natürlich, darauf gehe ich jede Wette ein.
Monica: Denkst du vielleicht, ich kaufe mir extra ein Ticket?
Wittenberg: Das denke ich eben nicht, sondern ich gehe davon aus, dass du im Zweifelsfall immer die ungesetzliche Verhaltensweise bevorzugen wirst.
Monica: Aber ich habe einfach kein Geld für U-Bahn-Fahrkarten.
Wittenberg: Dann musst du eben zu Fuß gehen. Andere Leute müssen das auch.
Monica: Wo ich hin wollte, das war viel zu weit weg.
Wittenberg: Schwarzfahren ist illegal. Das weiß schließlich jedes Kind.
Monica: Deine Weisheiten haben sich überlebt, Wittenberg, sie stammen aus einer ganz anderen, längst verflossenen Epoche der Menschheitsgeschichte.
Wittenberg: Seit wann beschäftigst ausgerechnet du dich mit „Epochen“?
Monica: Gar nicht, ich möchte nur zu bedenken geben, dass das Leben vor allen Dingen eine praktische Angelegenheit ist.
Wittenberg: Also gut, was ist passiert in der U-Bahn? Denn es passiert meistens etwas, wenn du in der Nähe bist.
Monica: Ich glaube, du neigst zu vorschnellen und falschen Verallgemeinerungen.
Wittenberg: Es ist also nichts passiert?
Monica: Doch.
Wittenberg: Na also, genau, wie ich es gesagt habe.
Monica: Nein, gar nicht, wie du gesagt hast.
Wittenberg: Wie dann?
Monica: Anders. Es handelt sich um ein Gespräch, das ich mit angehört habe.
Wittenberg: „Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand‘.“
Monica: Ich wollte nicht lauschen. Ich saß gegenüber von zwei jungen Männern, die sich lebhaft miteinander unterhalten haben. Ich hatte überhaupt nicht die Möglichkeit, nicht zuzuhören.
Wittenberg: Aber du hast dir jedes Wort eingeprägt?
Monica: Natürlich.
Wittenberg: Nichts ist natürlich. Jedenfalls nichts, was dich anbelangt.
Monica: Du hörst mir wieder einmal nicht zu.
Wittenberg: Wem sollte ich sonst zuhören, wenn nicht dir?
Monica: Wie gut, dass du es endlich einsiehst.
Wittenberg: Also, was haben die Männer gesagt?
Monica: Neugierig geworden?
Wittenberg: Nun erzähle es schon, ich kann nicht ewig warten.
Monica: Also …
Wittenberg: Man beginnt einen Bericht nicht mit „also“, das solltest du wissen.
Monica: Sie haben über ein dreckiges Buch gesprochen, ungeniert, die anderen Passagiere konnten alles mit anhören.
Wittenberg: Und der Titel des Buches?
Monica: ”Fifty Shades Of Grey“ — oder so ähnlich.
Wittenberg: Das ist ein pornographischer, ein sadomasochistischer Schundroman, meine Liebe. — Ein Schmutz!
Monica: Hast du das Buch gelesen?
Wittenberg: Nein, und ich habe auch nicht die Absicht, es zu tun.
Monica: Was zu tun?
Wittenberg: Das zu lesen.
Monica: Aber wie kannst du über ein Buch urteilen, das du gar nicht gelesen hast?
Wittenberg: Ich denke gar nicht daran, am helllichten Tag meine Lesegewohnheiten vor dir zu rechtfertigen.
Monica: Aber dabei geht es keineswegs um mich.
Wittenberg: Sondern?
Monica: Um dich selbst, selbstverständlich, denn du handelst intellektuell unredlich, wenn du dir ein Urteil anmaßt, das auf keinerlei Kenntnissen beruht.
Wittenberg: Unverschämtheit.
Monica: Selber Unverschämtheit.
Wittenberg: Ich handele niemals.
Monica: Das bildest du dir allenfalls ein, in idealistischer Verblendung.
Wittenberg: Du wolltest von dem Gerede in der Berliner U-Bahn erzählen.
Monica: Ja, aber du hast mich wieder einmal unterbrochen.
Wittenberg: Ich verspreche feierlich, dir jetzt geduldig zuzuhören.
Monica: Es ging, wie gesagt, um diesen englischen oder amerikanischen Bestseller. Beide Männer hatten das Buch schon gelesen. Der eine von den beiden erzählte nun von sich und einem gemeinsamen Bekannten. Sie saßen bei schönem Wetter zusammen draußen am Tisch vor einer Kneipe in der Bergmannstraße. Einer hatte ein Messer, der andere den Schmöker. Und nun spielten sie Messerstechen mit dem Roman. Die Verabredung lautete, dass der Bekannte, also der, der gerade nicht mit in der U-Bahn saß, das, was auf der aufgespießten Seite zu lesen war, gleich am Abend mit seiner Frau in die Tat umsetzen musste. In dem wie zufällig gefundenen Abschnitt ging es um „dirty talking“. Der abenteuerlustige Dritte hielt sein Versprechen auch ein.
Wittenberg: Ich glaube, du hast dir die Geschichte in deinem instabilen und fragilen Hirnchen selber ausgedacht, Monica.
Monica: Habe ich nicht, Esel.
Wittenberg: Also gut, erzähle weiter.
Monica: Der gemeinsame Bekannte kam abends erwartungsfroh nach Hause und sah seine Frau mit dem Abwasch beschäftigt. Das Abwaschwasser war richtig schön heiß, das Spülmittel duftete anheimelnd nach Zitrone. Die Frau trug Gummihandschuhe und ihre übliche Kittelschürze. Gläser, Tassen und Untertassen standen schon glänzend zum Trocknen an ihrem Platz. Hausmütterchen war gerade mit den Tellern beschäftigt. Jetzt tritt der Mann an die scheinbar Wehrlose von hinten heran, sagt zu ihr: „Guten Abend, du alte Schlampe! Weißt du, ich habe Lust, dich mal wieder richtig schweinisch zu ficken.“ Dabei reibt er seinen Schwanz an ihrem Arsch und greift ihr von hinten unter den Armen hindurch an die Titten.
Wittenberg: Und dann?
Monica: Das möchtest du wissen, was?
Wittenberg: Nun, ich weigere mich keineswegs, das schamlose Ende deines Berichts zur Kenntnis zu nehmen.
Monica: Die Frau gab dem Kerl einen Stoß mit dem rechten Ellenbogen, um sich Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Dann schlug sie ihm mit der linken Hand den Abwaschlappen kreuz und quer ins Gesicht, bis er aufheulte und um Gnade winselte. Dabei schrie sie ihn an: „Was fällt dir ein, so mit mir zu sprechen, du Idiot! Du Schweinehund! — Nein, doch eher: Du Idiot!“
Wittenberg: Fabelhaft.
Monica: Was heißt hier „fabelhaft“?
Wittenberg: Ich könnte mir vorstellen, dass die spontane Reaktion des gedemütigten Weibes haargenau den manipulativen massenpsychologischen Intentionen des gewieften Romanautors entspricht. — Es geht dabei vermutlich einmal mehr um die Frage nach dem Kritikzusammenhang von Sexualität und Gewalt oder von Sexualität und Herrschaft.
Monica: Hätte die Frau es deiner Meinung nach bei gutem Zureden bewenden lassen sollen?
Wittenberg: Das nicht, aber interessant ist meines Erachtens vor allem, wie leicht es den ideologischen Apparaten in Staat und Gesellschaft nach wie vor zu fallen scheint, einen charakterlich ungefestigten Mann zu einer unbedachten aggressiven Handlung sogar gegen die eigene Ehefrau zu verleiten.
Monica: Die meisten Leute würden, glaube ich, behaupten, der Mann habe nichts Böses getan.
Wittenberg: Jedwede Tat ist uranfänglich böse.
Monica: Jetzt übertreibst du wieder, Wittenberg.
Wittenberg: Haben sich die Kontrahenten aus deiner Erzählung wieder versöhnt?
Monica: Keine Ahnung.
Wittenberg: Soll das etwa heißen, dass die Geschichte keinen Schluss hat?
Monica: Ganz genau.
Wittenberg: Aber wieso denn nur?
Monica: Die beiden geschwätzigen Männer mussten leider schon am Kottbusser Tor aussteigen.
Wittenberg: Du hättest ebenfalls aussteigen und ihnen nachgehen können.
Monica: Damit du ein literarisch einwandfreies Finale serviert bekommst?
Wittenberg: Es wäre bestimmt der Mühe wert gewesen.
Monica: Was du nicht sagst.
Wittenberg: Ich „sage“ im Grunde niemals etwas in dem Sinne, dass ich etwas „aussagen“ will. Denn Aussagen sind mir zutiefst zuwider.
Monica:
Das ist es womöglich auch, was die Verständigung mit dir so kompliziert macht — Du denkst nicht, wie andere Menschen denken.
Wittenberg: Mit Äußerungen dieser Art machst du mich zum Aussätzigen, zum Heimatvertriebenen.
Monica: Das ist ein Missverständnis.
Wittenberg: Für mich kann es kein „Verständnis“ zwischen Menschen geben. Also ergibt des Begriff oder der Vorwurf des „Missverständnisses“ keinerlei Sinn.
Monica: Du igelst dich ein, Wittenberg.
Wittenberg streichelt Anastasia; sie setzt sich neben ihn. Wittenberg legt seine rechte Wange auf den Rücken der Hündin und schaut Monica schräg von unten herauf an, vielleicht mit einem treuen Hundeblick.
Wittenberg: Das ist nicht wahr, Monica. Ich sorge für uns. Ich gehe nicht weg.
Monica: Wir sorgen auch für dich, Wittenberg.
Wittenberg: Vielleicht ist es das, was uns aufgetragen ist. Nicht das permanente Sprechen, das verzweifelte Suchen nach immer neuen „Aussagen“, sondern …
Monica: Sondern was?
Wittenberg: Die Sorge.
Monica: Die Sorge? Was soll das bedeuten?
Wittenberg: Du tust es schon wieder!
Monica: Was tue ich?
Wittenberg: Du verlangst nach Aussage, Bedeutung, Eindeutigkeit, Gewissheit.
Monica: Aber was soll ich sonst tun? Was soll ich sonst tun, wenn ich etwas nicht verstehe?
Wittenberg: Innehalten.
Monica: Innehalten?
Wittenberg: Innehalten zum Anfang, zum Neubesinnen.
Monica: Schön und gut, aber …
Wittenberg: Der Schriftsteller Georg Hermann hat einmal sinngemäß gesagt: „Ich beneide jeden, der glaubt, etwas beantworten zu können.“
Monica: Aber wir müssen richtige Antworten finden auf die dringlichsten Fragen
unserer bloßen Existenz. — Die Hunde müssen jeden Tag ihr Futter haben.
15.7.2016