Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016
Zehnte Szene: Klosterstraße
Wittenberg und Richard sitzen auf einer Bank vor dem alten, seit Jahren geschlossenen und verwahrlosten Postgebäude in der Klosterstraße, ganz in der Nähe vom Rathaus Spandau. — Richard trägt einen hellen Trenchcoat und hält eine abgenutzte, braune Aktentasche auf den Knien.
Wittenberg:
Und? Wie ist es auf dem Arbeitsamt gelaufen?
Richard:
Reine Zeitverschwendung, wie immer. Allem Anschein nach halten die einen Ingenieur aus Kasachstan für eine besondere Käsesorte.
Wittenberg:
Aber sie bestellen dich immer wieder hin, die Damen und Herren Arbeitsvermittler?
Richard:
Alles Routine. — Sie müssen einfach ihr persönliches und dienstliches Soll an sinnlosen Gesprächen erfüllen.
*
***
*
Wittenberg:
Du hast von dem ätzenden Schmähgedicht gegen den Staatspräsidenten von Transturkien, Herrn Hyrdülbogan, gehört?
Richard:
Wie schaffst du das bloß? Ich kann mir solche Namen beim besten Willen nicht merken.
Wittenberg:
Ich habe dafür lange gebraucht, bis ich das kleine Land zwischen der Türkei und Georgien auf meinem Atlas ausfindig machen konnte.
Richard:
Von Geographie haben die Berliner bekanntermaßen keinen blassen Schimmer. Sie halten ihre Heimatstadt für den Mittelpunkt der Welt und sehen keine besondere Notwendigkeit darin, ihr Gedächtnis mit überflüssiger Erdkunde zu belasten.
Wittenberg:
Schon merkwürdig, mit was für Verbündeten sich Deutschland noch immer umgeben zu müssen meint. Ich dachte bisher, solch groteske Potentaten wie Präsident Hyrdülbogan gebe es allenfalls in fast verblichenen Stummfilmen vom Beginn des XX. Jahrhunderts. Er lässt Menschen öffentlich mit Stockschlägen bestrafen. Mannigfaltige Folterpraktiken wirft Amnesty International ihm vor. Straftätern werden in Transturkien unter Berufung auf die Scharia Glieder amputiert. Sexuell hyperaktive Frauen müssen mit Steinigung rechnen. Es herrscht eine archaische Rechtsordnung, aber der bösartige Despot kriegt aus Deutschland die modernsten Waffensysteme geliefert, sogar mit Mengenrabatt. Außerdem stellt die Bundeswehr militärische Ausbildungsplätze an Akademien in Deutschland zur Verfügung und schickt bei Bedarf auch kundige Militärberater in die Hauptstadt von Transturkien oder in die vermeintlich von den Russen bedrohten nördlichen Provinzen.
Richard:
Der Satiriker Boemerfeldt darf froh sein, wenn er den grandios inszenierten Ärger um sein schweinisches Ziegenfickergedicht überlebt.
Wittenberg:
Stress? Herzinfarkt? Geheimnisvolle Giftsorten auf Schwermetallbasis? Radioaktiv, möglicherweise?
Richard:
Eine eiskalte Hinrichtung kommt meiner Ansicht nach schon eher in Betracht. — Der arme Mann steht längst unter Polizeischutz.
Wittenberg:
Du meinst …
Richard:
Er könnte einem Anschlag zum Opfer fallen.
Wittenberg:
Wie der Regisseur aus den Niederlanden? Wie war noch gleich sein Name?
Richard:
Den habe ich leider vergessen.
Wittenberg:
Er wurde wegen islamkritischer Filme getötet. Und seine Arbeiten werden bis heute in Deutschland einfach nicht im Fernsehen gezeigt. — Denn eine Zensur findet selbstverständlich doch statt!
Richard:
Ich wundere mich über Boemerfeldts Naivität. Er hätte als gewiefter Medienprofi, der er nun einmal ist, wissen müssen, worauf er sich einlässt.
Wittenberg:
Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, besagten und betagten autoritären Potentaten Hyrdülbogan einen „Ziegenficker“ zu schimpfen.
Richard:
Weil es dir dazu an schmutziger Phantasie mangelt?
Wittenberg:
Vor ein paar Monaten, im Herbst, waren Monica und ich bei herrlichem Wetter im Tierpark Friedrichsfelde unterwegs. Dort gibt es ein riesiges Ziegengehege mit Ziegen in allen Formen und Größen, vielmehr Rassen und Arten. Darunter kräftige, weiße, zottelige Ziegen mit langen, geschwungenen und gewundenen Hörnern. Ich habe für wenig Geld ein Beutelchen Futter aus dem Automaten gezogen, es der Monica in die Hand gedrückt und anschließend die Nichtsahnende in das sandige Gehege hinein komplimentiert.
„Jetzt kommt Mäxchen,“ sagte eine Mutter zu ihren drei Kindern, „passt mal auf!“ Und in der Tat hob in ungefähr 50 Metern Entfernung eine der weißen Zottelziegen das gehörnte Haupt, erspähte die sich unsicher, mit kurzen, zaghaften Schritten der Herde nähernde fremde Frau im ureigenen Terrain und rannte sofort los, kleinere, unbeholfenere Ziegen beiseite schiebend, um sich einen angemessenen Anteil an den Leckereien zu sichern. Monica war auf den Ansturm des Ziegenbocks nicht vorbereitet; sie bemühte sich wie immer, alle Tiere gleichberechtigt und gerecht zu behandeln. Sie sah das Mäxchen nicht einmal herannahen.
Richard:
Du kanntest das zu erwartende Spektakel vermutlich schon von früheren Tierparksbesuchen her, du hinterlistiges Früchtchen?
Wittenberg:
Nun, möglicherweise. Jedenfalls wusste die freche Kampfziege sich bemerkbar zu machen und stupste mit ihrem hörnerbewehrten Schädel gegen Monicas dickes Hinterteil. Sie schob Monica tatsächlich wie im Zirkus ein Stück vor sich her. Es war zum Schreien komisch, und wir Zuschauer hatten einen Heidenspaß. Die Kinder quietschten vor Begeisterung und klatschten sogar unwillkürlich in die Hände, ganz so, als wollten sie einer Vorstellung im Kasperletheater Beifall spenden.
Richard:
Wittenberg …
Wittenberg:
Und nun stelle dir bitte bildlich vor, wie jener grauenerregende Staatspräsident Hyrdülbogan den Versuch wagt, unser lebenslustiges Mäxchen zu vögeln!
Richard:
Ein Fiasko!
Wittenberg:
Ganz genau, denn der Präsident Hyrdülbogan müsste ein stahlharter Mann wie aus einem amerikanischen Superheldencomic sein, selbst um die geringste unserer berlinischen Ziegen zu bändigen. Er würde es höchstens schaffen, wenn ihm ein ganzes, speziell geschultes Armeekorps dabei hilfreich zur Seite stünde.
Richard:
Ich nehme alles zurück, Wittenberg, an schmutziger Phantasie fehlt es dir wirklich nicht.
Wittenberg:
Man könnte natürlich argumentieren, eigenwillige Ziegenböcke kämen als Sexualpartner für operettenhafte Staatspräsidenten sowieso nicht in Frage; es müsse auf jeden Fall eine relativ wehrlose weibliche Ziege dran glauben — in einem polymorph perversen Akt von heterosexueller Sodomie.
Richard:
Sagt man „Sodomie“? Ist das nicht das, was Schwuchteln tun? — Weibliche Ziegen haben auch wesentlich kleinere Hörner.
Wittenberg:
Daran kann man sie vielleicht erkennen. — Ich sollte wieder einmal auf einem Bauernhof Urlaub machen.
Richard:
Dass mir keine Klagen kommen, Wittenberg, ich möchte nichts Ungezogenes mehr von dir hören.
*
***
*
Wittenberg:
Was sagst du zu unserem schäbigen Postgebäude mitten im Spandauer Zentrum? Für mich handelt es sich dabei um eine politische Perversion besonderer Art.
Richard:
Eine Schande?
Wittenberg:
Ein kommunalpolitischer Offenbarungseid.
Richard:
Wem gehört das eigentlich alles?
Wittenberg:
Einer schwäbischen Hausfrau vielleicht?
Richard:
Rede keinen Unsinn, Wittenberg.
Wittenberg:
Es ist allem Anschein nach ein Ding der Unmöglichkeit, mit den Grundeigentümern auch nur in Kontakt zu treten.
Richard:
Aber der eine oder andere Investor als bürgerlicher Hoffnungsträger muss den Kaufvertrag doch bereitwillig unterschrieben haben!
Wittenberg:
Darauf kannst du einen lassen, Kasache.
Richard:
Ohne die Fakten zu kennen, möchte ich mich zu der Angelegenheit nicht äußern.
Wittenberg:
Der aktuelle Zeitungsartikel von Herrn Döhring bringt im Prinzip nichts Neues. — Alle paar Jahre bekommen wir einen ähnlichen Text zu lesen, es werden politische Initiativen versprochen, auch das bitterböse Wort „Enteignung“ kommt dem einen oder anderen Bezirksverordneten wie ein melancholischer Hauch über die schmalen Lippen. — Aber das alles verpflichtet zu nichts, und die verdammte Ruine bleibt stehen.
Richard:
Als „Ruine“ kann man das Gebäude wirklich nicht bezeichnen. Im Gegenteil, die Bausubstanz scheint recht robust zu sein.
Wittenberg:
Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe schon hässlichere Bauwerke gesehen.
Richard:
Meiner Ansicht nach müsste man zuerst das Hochhaus gegenüber abreißen. Dann hätte Spandau ein unbebautes Filetgrundstück als Verhandlungsmasse, und die Karten könnten neu gemischt werden.
Wittenberg:
Wie stellst du dir das vor?
Richard:
Wenn du ein Problem in einem System nicht lösen kannst, musst du das System unter Umständen zumindest eine Zeitlang verlassen.
Wittenberg:
Und weiter?
Richard:
Ein unbebautes Grundstück mitten in der Stadt lockt normalerweise die Bauherren an wie ein Haufen Scheiße die Fliegen.
Wittenberg:
Was ist eigentlich drin in der Scheiße, das für die Schmeißfliegen, die man getrost auch „Scheißfliegen“ nennen könnte, so attraktiv ist?
Richard:
Vom Scheißer ungenutzte Nährstoffe vermutlich.
Wittenberg:
Der gewesene Fraktionsvorsitzende der Piraten vertritt die Auffassung, man müsse eine Investorenentscheidung unbedingt respektieren.
Richard:
Nein, man muss eine Investorenentscheidung provozieren.
Wittenberg:
Aber wie stellst du dir das konkret vor?
Richard:
Vielleicht sollten wir sogar im Dreieck denken.
Wittenberg:
Im Dreieck, natürlich.
Richard:
Die Arcaden, das Postamt und das Jugendamtshochhaus bilden eine Art städtebaulich zu entwickelndes Dreieck, sogar, wenn wir wollen, mit phantastischen Anbindungsmöglichkeiten an die Havel.
Wittenberg:
Aber wie bekommst du die Verbindung zwischen den vielerlei Investoreninteressen hin?
Richard:
Eben durch die zu erbringende Vorleistung des Abrisses des Hochhauses durch den Bezirk Spandau oder durch die große Stadt Berlin.
Wittenberg:
Das kapiere ich nicht, Richard Löwenherz.
Richard:
Ganz klar ist es mir auch noch nicht.
Wittenberg:
Nicht?
Richard:
Ich stelle mir vor, dass der ökonomische Druck, den die Neuinvestoren ausüben werden, den inaktiven Altinvestor endlich in Zugzwang bringt. Er könnte dann mitmachen und mitverdienen oder verkaufen und mitverdienen.
Wittenberg:
Jedenfalls verdienen?
Richard:
Er hat das Grundstück und das Postamt seit Jahren unter Kontrolle als Faustpfand und Spekulationsobjekt. Wenn er aber den Eindruck gewinnt, jetzt endlich seinen Reibach machen zu können, dann wird er sich eventuell bewegen.
Wittenberg:
Was hältst du von der Parole „Enteignung“?
Richard:
Das wird schwierig werden, und zeitraubend ist es sowieso.
Wittenberg:
Aber nicht unmöglich?
Richard:
Das Postamt liegt im Sanierungsgebiet Wilhelmstadt?
Wittenberg:
Ja.
Richard:
Ich bin mir nicht sicher, ob das die Chancen zu einer Enteignung erhöht.
Wittenberg:
Aber es verschlechtert sie auch nicht?
Richard:
Ich fürchte, das Sanierungsgebiet allein ist noch kein ausreichendes Argument. Es müsste ein überzeugendes Konzept, eine alles überstrahlende Idee entwickelt und planungsrechtlich abgesichert werden, um das Gemeinwohl gegen das Investorenwohl in Stellung bringen zu können.
Wittenberg:
Im Baugesetzbuch finden sich Ansatzpunkte.
Richard:
Aber das deutsche Baugesetzbuch ist kein sozialrevolutionäres Manifest.
Wittenberg:
Es existiert ein Gutachten von einem über Berlin hinaus bekannten Planungsbüro. Darin wird der fehlende Anschluss der Wilhelmstadt an das Berliner Schnellbahnnetz beklagt.
Richard:
Das müssten unsere ehemaligen „Volksparteien“ aufgreifen und vorantreiben.
Wittenberg:
Die werden sich hüten.
Richard:
Vor Hitler gehörte es zu den Grundprinzipien der BVG, die Außenbezirke mit der Innenstadt zu verbinden und umgekehrt.
Wittenberg:
Auch das scheint nach dem Vorbild des Kollegen Alzheimer allmählich in Vergessenheit geraten zu sein. Nicht nur die Wilhelmstadt, auch Pichelsdorf, Heerstraße-Nord, Staaken, der gesamte Spandauer Süden, über Gatow, Hohengatow und Kladow bis nach Potsdam, hat keinen U-Bahn-Anschluss.
Richard:
Die Grünen werden mit Sicherheit dagegen argumentieren. Denn für all das schöne Geld, das für die Verlängerung von zwei Spandauer U-Bahnlinien aufgewendet werden müsste, könnte man zahllose Kilometer Radwege bauen.
Wittenberg:
Die Straßenbahn wäre eine prima Alternative.
Richard:
Der wiederum steht, wie man hört, unser Bezirksbürgermeister Hellmuth Kleeberger durchaus wohlwollend gegenüber.
Wittenberg:
Auch Stadtrat Mullicke könnte sich auf der Heerstraße eine Straßenbahn, die die ewigen Buskolonnen ersetzt, durchaus vorstellen. Aber die kleinen und mittleren Funktionäre im und um das Bezirksamt herum werden hemmend einzuschreiten wissen. — Wenn unser braver Bürgermeister wüsste, wie höhnisch seine eigenen Leute ihn manchmal hinterrücks belächeln, würde er sich vermutlich seine zwei oder drei Gedanken machen.
*
***
*
Richard:
Wittenberg, ich fürchte, du hast dich in der Politik, in der SPD in eine ähnlich schwierige Situation manövriert, wie dir das regelmäßig beim Schachspielen passiert. ─ Immer wieder!
Wittenberg:
Der Eindruck drängt sich mittlerweile auf, sogar mit Macht. Monica mokiert sich fast jeden Tag in ganz ähnlicher Weise.
Richard:
Du müsstest dir angewöhnen, die Entwicklungsgeschichte der SPD in den letzten 100 Jahren als einen naturhistorischen Prozess zu begreifen.
Wittenberg:
Schön …
Richard:
Vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Jahrzehnte währendem Imperialismus, über die verratene Novemberrevolution, die gescheiterte Weimarer Republik und die grauenvolle Nazizeit bis heute.
Wittenberg:
Und?
Richard:
Eine solche Perspektive wäre überaus nützlich für deine mentale Gesundheit, Wittenberg.
Wittenberg:
Ich fasse es nicht!
Richard:
Der deutsche Arbeiter ist ein Spießbürger. Das hatte bereits Walther Rathenau klar erkannt. In diesem Lichte betrachtet, bekommt der inzwischen spektakulär motorisierte Subalterne Heinz mit seiner SPD genau die politische Führung, die er verdient ─ konterrevolutionär bis auf die Knochen und verlogenen Bündnissen mit militaristischen Kräften keineswegs abgeneigt.
Wittenberg:
Der sozialdemokratische Funktionär der Gegenwart dillettiert in Bildungspolitik, macht menschenfreundliche Sozialreformen nach Kassenlage und interessiert sich zunehmend wieder für Religionsdinge.
Richard:
Ich spreche von Krisenzeiten, Wittenberg. ─ Die SPD ist nicht prinzipiell gegen Gewalt. Man muss genauer hinschauen und sich dabei nicht einschüchtern lassen. Die SPD lehnt Gewalt oder genauer: Gegengewalt gegen die erwiesenermaßen gewalttätigen bürgerlichen Klassen ab, aber mörderische Gewalt gegen die eigenen Leute hält sie leider im missverstandenen Interesse des Staatserhaltes von Zeit zu Zeit für unverzichtbar.
Wittenberg:
Ich weiß das wohl, Richard, aber was soll man dagegen machen?
Richard:
Du zahlst auch noch Beitrag dafür, verschwendest deine kostbare Lebenszeit für Parteiveranstaltungen, wirst gemobbt und verachtet, als linksradikal diffamiert. Warum tust du dir das an?
Wittenberg:
Aber wenn den Linken in der SPD am Ende nichts Besseres einfällt als der Parteiaustritt, dann machen die Rechten ewig so weiter.
Richard:
„Nichts ist ewig,“ sagen die Indianer, „nur die Sonne und die großen Berge.“
Wittenberg:
Soll ich vielleicht eine Splitterpartei gründen?
Richard:
Jetzt übertreibst du wieder, Wittenberg.
Wittenberg:
Oder einer Splitterpartei beitreten?
Richard:
Das bliebe zu überlegen.
Wittenberg:
Von der aktuell umtriebigsten Spandauer Splitterpartei hast du schon gehört?
Richard:
Nein, leider noch nicht.
Wittenberg:
Dann will ich dich gerne aufklären …
Richard:
Ich bitte darum!
Wittenberg:
Also …
Richard:
Man beginnt ein politisches Referat nicht mit „also“, Wittenberg, das solltest du langsam wissen.
Wittenberg:
Nun gut …
Richard:
Das ist auch nicht viel besser.
Wittenberg:
Tatsache ist …
Richard:
Das lässt sich hören, Wittenberg, konzentriere dich bitte auf die Tatsachen.
Wittenberg:
Es geht um die WisS …
Richard:
Um die was?
Wittenberg:
Wählerinitiative soziales Spandau — abgekürzt: großes „W“, kleines „i“, kleines „s“, großes „S“.
Richard:
Zweimal großes „S“ ginge schlecht, dann hätten wir wieder die „SS“.
Wittenberg:
Meinst du, das würde schlimme historische Erinnerungen wecken?
Richard:
Was sind das für Leute?
Wittenberg:
Wenn du mich fragst, und du fragst mich ja, dann sind das politisch gescheiterte Sozialdemokraten und listige, eigennützige Piraten, die sich die neuerdings wieder aufgebrochenen Protestpotentiale nutzbar machen möchten.
Richard:
Eine Splitterpartei mehr für den Misthaufen der Geschichte?
Wittenberg:
Ich frage mich ernsthaft, Kasache, wer dir solch schmutzige deutsche Vokabeln beigebracht haben könnte.
Richard:
Die habe ich mit der Muttermilch aufgesogen, Wittenberg, alter Flegel.
Wittenberg:
Der eine oder andere Grüne wird sicherlich auch mittun wollen bei der WisS.
Richard:
Wird die Spandauer SPD gegenhalten?
Wittenberg:
Keine Ahnung.
Richard:
Hat die SPD in Spandau überhaupt die Kraft, auf solche unverhofften Herausforderungen zu reagieren?
Wittenberg:
Nehmen wir unseren ehemaligen sozialdemokratischen Genossen Neuhoff zum Exempel. Der war bis zum Februar 2016 Vorsitzender der Abteilung Südpark/Tiefwerder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. — Eine sozialdemokratische Abteilung in Berlin ist gleich einem sozialdemokratischen Ortsverein in Westdeutschland. — Außerdem arbeitete er im Büro des SPD-Bundestagsabgeordneten Schulzendorff. Der wiederum hatte maßgeblichen Anteil daran, dass Neuhoff überhaupt für zwei Jahre den Abteilungsvorsitz Südpark/Tiefwerder übernehmen konnte. Agitatorischer Telefonsex als interne Wahlkampfhilfe, wenn du verstehst, was ich meine. Neuhoffs Hauptanliegen als Abteilungsvorsitzender war es, seine Position zu festigen und bei den nächsten Wahlen in Berlin in aussichtsreicher Position für die Spandauer Bezirksverordnetenversammlung kandidieren zu dürfen. Das ist nämlich keineswegs ein Ehrenamt und dient vielen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zur Aufbesserung ihrer Renten. Kommunalpolitisches Engagement und Sachverstand sind dabei eher weniger gefragt; als Auswahlkriterium dient in erster Linie unbedingte Ergebenheit dem Kreisvorsitzenden gegenüber.
Richard:
Aber der schlaue Plan des ambitionierten Genossen Neuhoff ging nicht auf?
Wittenberg:
Die, die ihn anfangs in der Abteilung als Übergangsfigur unterstützten, um bestimmte oppositionelle Vagabunden zu verhindern, ließen ihn aus Langeweile bald wieder fallen. Er wurde als Abteilungsvorsitzender nicht wiedergewählt, und eine Kandidatur zur BVV kam überhaupt nicht in Frage. Daraufhin trat er prompt aus der Partei aus und schmiss sogar seinen Job als Mitarbeiter des Genossen Bundestagsabgeordneten Schulzendorff hin. — Die Überraschung zumindest war ihm gut gelungen. Einen solch drastischen Schritt aus lauter Verzweiflung hätte niemand von uns erwartet.
Richard:
Hat er inzwischen bessere Geldquellen für sich aufgetan?
Wittenberg:
Das weiß ich nicht; so genau kenne ich ihn nicht.
Richard:
Eine gewisse Risikobereitschaft scheint dem Mann nicht abzusprechen zu sein.
Wittenberg:
In der Spandauer SPD hatte jedenfalls auch Neuhoff sich in ein rechtschaffen auswegloses Endstadium hinein manövriert.
Richard:
Diese Bürgerinitiative oder meinetwegen: „Wählerinitiative“ geht also in allererster Linie gegen die SPD?
Wittenberg:
„Wählerinitiative“ bedeutet dem Wortsinne nach: eine Initiative von Wählern. Davon kann keine Rede sein. Eher handelt es sich um eine Initiative gegen die Wähler; sie sollen nämlich verleitet werden, ihre wertvollen Stimmen an eine Splitterpartei zu verschwenden. Ebenso gut könnten sie ihre Stimmzettel auch gleich in den Papierkorb schmeißen.
Richard holt aus seiner Aktentasche zwei große Dosen Schultheiss-Bier.
Richard:
Dagegen wollen wir aus dem Blech einen trinken!
Wittenberg:
Bedauerlicherweise sind immer nur ein paar Schluck in so einer Büchse, dann ist sie leer.
Richard:
Das Leben ist eben großenteils ungerecht.
Wittenberg:
Das Leben ist eben genau, wie es ist. Es kann nichts dafür, dass die Menschen sich Illusionen machen.
Richard:
Die Illusion der Freiheit, die Illusion der Gerechtigkeit, die Illusion der Solidarität, die Illusion der Demokratie.
Wittenberg:
Um nur die bekanntesten, am weitesten verbreiteten zu nennen!
Richard:
Die Illusion der Gesundheit …
Wittenberg:
… als eine der letzten großen politischen Lügen unserer Zeit.
(21. August 2016)