Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016
Sechste Szene: Moritzstraße
Wieder in der Moritzstraße, die als der Hauptort des Stücks betrachtet werden mag. Monica sitzt zunächst mit Zoltan allein auf ihrer Decke; Wittenberg und Anastasia kommen erst später hinzu. Juliane bringt einen Napf mit Wasser für den Hund; sie will gleich wieder zurück in den Second-Hand-Laden, überlegt es sich aber anders und bleibt bei Monica stehen.
Juliane:
Weißt du, Monica, ich musste über Ostern nachdenken …
Monica:
Musstest du über Ostern nachdenken, oder musstest du über Ostern nachdenken?
Juliane:
Ich habe mir, ganz gegen meinen Willen, Fragen gestellt über den Wahrheitsgehalt der christlichen Osterlegenden. Ich meine, Wiederauferstehung von den Toten ist eher unwahrscheinlich, also muss es eine andere, halbwegs vernünftige Erklärung für die Ereignisse nach dem Karfreitag geben.
Monica:
Und die wäre?
Juliane:
Gehen wir von der Arbeitshypothese aus, Jesus sei wirklich am Karfreitag vor ungefähr 2000 Jahren gekreuzigt worden.
Monica:
Einverstanden. — Damals wurden ständig Menschen gekreuzigt; es sollte abschreckend wirken.
Juliane:
Nehmen wir zweitens an, Jesus sei am Ende der Torturen vollkommen erschöpft, aber noch am Leben gewesen, scheintot gewissermaßen.
Monica:
Erzähle weiter, immer weiter, wir werden schon sehen.
Juliane:
Maria Magdalena wich nicht von seiner Seite, sie lungerte ständig in der Nähe der Hinrichtungsstätte herum und achtete auf jede Kleinigkeit. Sie kannte Jesus so genau, wie eben nur Ehefrauen ihren Mann kennen können, wenn sie wollen. Erst hörte sie seine Worte am Kreuz, dann bemerkte sie, wie sein Atem langsam schwächer wurde. Aber aus den viel zu wenigen gemeinsamen Nächten, die ihnen vor Judaskuss und schändlichem Verrat verblieben waren, erinnerte sie sich an ein winziges Äderchen in Jesu Leistenbeuge, das niemals ruhen wollte. Als ein römischer Legionär Anstalten machte, den Gekreuzigten mit einer Lanze zu traktieren, mischte Maria Magdalena sich ein und fragte frech, ob er wohl über ein zweites, kräftigeres Lanzenstück verfüge, das nicht einem bleichen Toten, sondern einer schwarzhaarigen Lebendigen geweiht werden könne. Der Legionär ließ sich nicht lange bitten; er stieß in das scheinbar geile und gefügige Weib. Am Ende hatte Jesus nur einen ungefährlichen Kratzer mehr abbekommen; sein Blutverlust hielt sich in Grenzen. Der befriedigte Krieger verschwendete keinen Gedanken mehr an die verdammte Leiche am Kreuz und trollte sich in Richtung Innenstadt, um den Saufkumpanen in der Kneipe stolz von seiner sexuellen Eskapade zu berichten und anschließend lauthals über die Verkommenheit der Erzdirnen zu klagen, die nicht einmal mehr davor zurückschreckten, ihr verruchtes Treiben auf Friedhöfen zu vollführen. Die Nacht zum Ostersonnabend brach herein. Ein warmer Wind wehte aus der Wüste über das von Gott und den Menschen verlassene Gelände herüber.
Monica:
Julianchen, deine Phantasie möchte ich haben!
Juliane schüttelt energisch den Kopf.
Juliane:
Nein, nein, es könnte so gewesen sein. Ich habe es mir genau zurechtgelegt.
Monica:
Also weiter, Juliane, bitte, immer weiter.
Juliane:
Um die weiteren Vorkommnisse bis zum Ostersonntag rational beurteilen zu können, müsste man wissen, wie damals ein Friedhofsbetrieb organisiert worden war. — Ich nehme an, nicht viel anders als heute. Das bedeutet: am Tage schlecht, am Abend noch schlechter und in der Nacht überhaupt nicht bewacht. Nimm nur unseren Spandauer Friedhof „In den Kisseln“ als mahnendes Beispiel!
Monica:
Ich glaube, ich verstehe, worauf du hinaus willst.
Juliane:
Der Friedhofswärter war sicherlich kein römischer Soldat, eher ein schlecht bezahlter Angestellter im öffentlichen Dienst. Eine unappetitliche Nachtwächtergestalt im mittleren oder höheren Stadium der Verfettung. Maria Magdalena hatte leichtes Spiel mit ihm; ihr Einsatz dürfte diesmal einen Krug Wein nicht überschritten haben.
Monica:
Und Mutter Maria und die verbliebenen, treuen Jünger haben dann in aller Stille Jesus aus der Leichenhöhle geborgen und sind mit ihm geflohen?
Juliane:
So stelle ich es mir vor. — Oder hast du vielleicht eine bessere Erklärung?
Monica:
Wollen wir Wittenberg davon erzählen?
Juliane:
Lieber nicht, Monica.
Monica:
Warum?
Juliane:
Ich weiß nicht …
Monica:
Verstehe …
Juliane verschwindet wieder in ihrem Shop. Zwei oder drei Kundinnen gehen mit hinein. Kurz darauf kommt der Apotheker aus seinem Ladenlokal. Erst überprüft er die Auslagen in den Schaufenstern, dann baut er sich mit verschränkten Armen vor Monica und Zoltan auf. — Monica drückt Zoltan eng an sich und hält ihn am Halsband fest.
Apotheker:
Sie …
Monica:
Ja?
Apotheker:
Was machen Sie hier? Müssen Sie ausgerechnet vor meiner Apotheke Ihr Elend zur Schau stellen?
Monica:
Ich stelle gar nichts zur Schau; ich halte mich lediglich hier auf. Ist das verboten?
Apotheker:
Ich verbiete es Ihnen!
Monica:
Sie haben mir gar nichts zu verbieten, Herr Apotheker.
Apotheker:
Aber das ist doch eine solche Unverschämtheit! Ihren Aufenthalt vor meiner Apotheke kann ich nicht anders als „geschäftsschädigend“ bezeichnen.
Monica:
Bezeichnen Sie nur, Herr Apotheker, bezeichnen Sie alle Tage.
Apotheker:
Müssen Sie immer das letzte Wort behalten, gute Frau?
Monica:
Ich bin eher eine böse Frau, keine gute.
Apotheker (entnervt):
Ein hoffnungsloser Fall!
Der Apotheker stürmt zurück in seine Apotheke. Julianes Kundinnen kommen wieder nach draußen; eine von ihnen trägt jetzt eine Einkaufstüte in der Hand.
Erste Kundin:
Für das Geld bekommt man auch neue Ware bei den Discountern.
Zweite Kundin:
Sagen wir, es habe sich um einen Unterstützungskauf gehandelt.
Dritte Kundin:
Es riecht immer ein bisschen streng in den Second-Hand-Läden, findet ihr nicht?
Zweite Kundin:
Wenn ich mit jetzt etwas wünschen dürfte: ein Kännchen schwarzen Tee, dazu ein großes Stück Mokkatorte, ohne Sahne, zum Abschluss vielleicht ein Glas Portwein.
Erste Kundin:
Ich schlage vor, wir gehen ins Spandovia Sacra am Reformationsplatz. Das ist eigentlich als ein kleines Museum der Gemeinde St. Nikolai gedacht, aber man kann dort auch einfach in aller Ruhe seinen Kaffee trinken.
Dritte Kundin:
Bestimmt ist das der ruhigste Platz in der Altstadt, wie geschaffen zum Innehalten.
Wittenberg und Anastasia kommen gerade noch rechtzeitig, um das Gespräch der drei Damen mit anhören zu können. Anastasia gesellt sich zu Monica und Zoltan. Wittenberg bleibt stehen und macht gymnastische Übungen.
Monica:
Wittenberg, seit wann bist ausgerechnet du unter die Turner gegangen?
Wittenberg betreibt unbeirrbar und keineswegs unelegant weiter seine Dehnübungen für Hals und Nacken.
Monica:
Wittenberg, gleich wird es ganz fürchterlich knacken, der Kopf geht ab, und du musst sehen, wie du am Abend nach Hause kommst.
Wittenberg ist bei der Übung „Kopfpendel“ angelangt. Dabei wird der Kopf langsam, mit zur Brust geneigtem Kinn, im Halbkreis von links nach rechts und wieder nach links gerollt. (Bitte niemals den Versuch unternehmen, den Halbkreis zum Kreis zu erweitern und die Bewegung nach hinten fortzusetzen!) — Anastasia und Zoltan beobachten Wittenberg zunächst aufmerksam aus der Entfernung. Dann schauen sie ihr Herrchen aus der Nähe fragend an, bellen kurz und kräftig und springen schließlich an ihm hoch.
Wittenberg:
Ist ja schon gut, Kinder, ich gebe freiwillig auf!
Monica:
Die Hunde müssen denken, Wittenberg ist verrückt geworden.
Wittenberg:
Mir ist aufgefallen, dass ich mehr für mein körperliches Wohlbefinden tun könnte.
Monica:
Das möchte ich höflichkeitshalber als eine relativ späte Erkenntnis bewerten.
Wittenberg:
Vielleicht sollten wir nach Kladow hinausfahren?
Monica:
Die Kladower würden sich sicherlich über unser Auftauchen freuen.
Wittenberg:
In Kladow ist meistens schönes Wetter.
Monica:
Was du nicht sagst!
Wittenberg:
Wir könnten eine Dampferfahrt machen.
Monica:
Aber du hast doch Aktivitäten, die mit frischer Luft einhergingen, seit Jahr und Tag als „kleinbürgerlich“ und „spießig“ verurteilt. — Woher dieser erstaunliche Sinneswandel?
Wittenberg:
Ich habe ein junges Mädchen kennengelernt.
Monica:
Wie jung?
Wittenberg:
Ziemlich.
Monica:
Oder eher unziemlich?
Wittenberg:
Sie hat vier Kinder, ungefähr.
Monica:
Alle Achtung!
Wittenberg:
Ich bin aber von keinem der Vater.
Monica:
Auch nicht der Erzeuger?
Wittenberg:
Keinesfalls.
Monica:
Und was hast du dir vorgestellt? Willst du dich mit den Kindern beschäftigen? Ihnen zum Beispiel Deutschunterricht geben?
Wittenberg:
Deutschunterricht ist keine einfache Sache.
Monica:
Ich weiß.
Wittenberg:
Wie kommst du auf die Idee, dass Deutschunterricht notwendig werden könnte?
Monica:
Deutschunterricht kann es gar nicht genug geben.
Wittenberg:
So?
Monica:
Das Mädchen hat sicherlich Migrationshintergrund?
Wittenberg:
Woher weißt du das?
Monica:
Bosnien? Herzegowina?
Wittenberg:
Ungefähr.
Monica:
Habt ihr schon?
Wittenberg:
Nein, wir haben noch nicht.
Monica:
Das soll ich dir glauben?
Wittenberg:
Warum sollte ich dich anlügen?
Monica:
In diesen Dingen lügen fast alle Männer.
Wittenberg:
Ich nicht!
(16. August 2016)