Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016
Neunte Szene: Moritzstraße, Südseite
Monica und Wittenberg, Anastasia und Zoltan sitzen diesmal nicht auf der nördlichen Seite der Moritzstraße, vor Apotheke und Second Hand Shop, sondern genau gegenüber auf der Südseite. Hinter ihnen befindet sich die gerade neu eröffnete Fast-Food-Filiale der Firma Burger Prince. Als Reklamemaskottchen dient eine Figur, die aus der Entfernung an Elvis Presley und an Michael Jackson erinnert, aus der Nähe betrachtet aber einem Comic für Kinder entsprungen sein könnte. Die schwarzen Haarsträhnen des Jungen weisen in alle erdenklichen Himmelsrichtungen; seine großen, neugierigen Augen sind grün; eine spitzige Stupsnase gibt ihm einen besonders pfiffigen Gesichtsausdruck. Er ist auffällig schlank, trägt einen silbrigen Popstaranzug und hat, in scheinbarem Widerspruch dazu, eine kleine rote Schürze umgebunden, auf der wiederum er selbst abgebildet ist. Zu sehen ist das Maskottchen auf der Markise des Geschäfts, auf Aufklebern an den Fenstern und auf lebensgroßen Aufstellern in der Moritzstraße und in der Carl-Schurz-Straße, die auf der linken Seite der Bühne angedeutet ist. Die Moritzstraße und die Carl-Schurz-Straße wurden von Burger Prince mit Hunderten bunten Luftballons geschmückt. Zwei Angestellte, eine Frau und ein Mann, verteilen Reklamezettel an die Passanten.
Monica und Wittenberg spielen auf ihrer Decke „Mensch ärgere Dich nicht“. Monica hat die blauen Steine, Wittenberg die roten.
Monica:
Ist er Türke?
Wittenberg:
Das nicht gerade.
Monica:
Was dann?
Wittenberg:
Diese Dinge werden in der Partei nicht in aller Ausführlichkeit erörtert.
Monica:
Aber viele Leute denken, es handele sich um einen Türken.
Wittenberg:
Ich glaube, man begeht keinen allzu großen Fehler, wenn man ihn als Palästinenser bezeichnet.
Monica:
Palästina?
Wittenberg:
West Bank.
Monica:
Das Existenzrecht Israels gehört zur deutschen Staatsraison; das Existenzrecht Palästinas ist uns hingegen reichlich schnuppe.
Wittenberg:
Es handelte sich um Terroristen damals aus Palästina, die uns unsere wunderbare, bezaubernde Olympiade in München kaputtgemacht haben. Es hätte die schönste Olympiade aller Zeiten werden sollen und vielleicht auch werden können. Wir waren auf gutem Wege. Die Eröffnungsfeier wird vielen Zuschauern unvergesslich geblieben sein. Joachim Fuchsberger als Stadionsprecher. Musik von Martin Böttcher. Das ist der Karl-May-Filme-Komponist. Der feierliche Einzug der Nationalmannschaften ins Münchener Olympiastadion. Es war ein herrliches Fest. — Wir baten damit die Völker der Welt: „Bitte, vergebt uns unsere Schuld.“
Monica:
Ich habe davon gehört. — Wann genau war das?
Wittenberg:
Die Sommerolympiade von 1972 in München.
Monica:
Und richtige Terroristen?
Wittenberg:
Sie nannten sich „Schwarzer September“. Unsere Sicherheitskräfte waren total überfordert.
Monica:
Hat es viele Tote gegeben?
Wittenberg:
Alle jüdischen Geiseln wurden getötet, auch alle Terroristen, wenn ich mich recht entsinne.
Monica:
Auch tote Polizisten?
Wittenberg:
Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten, aber ich glaube, Polizisten waren nicht unter den Opfern. — Das finale Massaker ereignete sich auf dem Gelände des Flughafens Fürstenfeldbruck. — Der Spielfilm „München“ von Steven Spielberg handelt von der mörderischen Rache des israelischen Geheimdienstes an den Hintermännern des „Schwarzen Septembers“.
Monica:
Es ist gemein, unpolitische Sportler als Geiseln zu nehmen.
Wittenberg:
Aber ist es auch gemein, mit gleicher Münze heimzuzahlen und die vermeintlich Schuldigen ohne Gerichtsurteil mit dem Tode zu bestrafen?
Monica:
„Auge um Auge …“
Wittenberg:
Ich wusste gar nicht, dass es so viele Regeln gibt beim „Mensch-ärgere-Dich-nicht“-Spielen.
Monica:
Regeln, die unbedingt einzuhalten sind.
Wittenberg:
Sonst wären es keine Regeln.
Monica:
Vielleicht ist das sogar der pädagogische Hintersinn von solchen Spielen: Die Kinder sollen die Bedeutung von Regeln zumindest erahnen.
Wittenberg:
Der politische Traum unseres palästinensischen Kreisvorsitzenden besteht darin, dass um das Jahr 2030 eine muselmanische Frau zur Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt wird.
Monica:
Für dich wäre das wohl eher ein Albtraum, nicht wahr?
Wittenberg:
Ich bin kein Ausländerhasser, Monica.
Monica:
Hat er das offiziell erklärt? Oder war das parteiintern abends in der Kneipe?
Wittenberg:
Nein, nein, bei einem öffentlichen Auftritt in der Kultur-Universität von Istanbul, September 2015.
Monica:
Kann es vielleicht sein, dass der Spandauer Kreisvorsitzende der SPD ein aufgeschlossener, moderner Politiker ist, der sich für das friedliche Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen einsetzt?
Wittenberg:
Das will ich gar nicht bestreiten, Monica.
Monica:
Aber was nörgelst du dann beständig herum an dem Mann, Wittenberg?
Wittenberg:
Ich meine, dass eine SPD, die sich in der Hauptsache um Religionsdinge bekümmert, sich nicht wundern sollte, wenn sich die Wähler, die andere Interessen verfolgen, enttäuscht von ihr abwenden.
Monica würfelt wieder und schlägt dann einen von Wittenbergs roten Steinen.
Wittenberg:
Deine Technik beim „Mensch ärgere Dich nicht“ ist in hohem Maße provozierend, wenn du mir die Bemerkung gestatten möchtest.
Monica:
Ich gestatte keineswegs, Wittenberg, und drohe dir hiermit eine schallende Ohrfeige an.
Wittenberg:
Aber wenn du mich erst laufen lässt, um mich dann kurz vor dem Ziel herauszuschmeißen, dann erinnert mich das stark an eine Katze, die mit der Maus ihr Todesspiel treibt.
Monica:
Das hast du nicht unsensibel beobachtet, alter Lustmolch.
Wittenberg:
Du gibst es also zu?
Monica:
Ich gebe niemals etwas zu, das solltest du inzwischen gelernt haben, vor allem nicht — die Tatsachen.
Mrs. Sanders kommt aus der Carl-Schurz-Straße um die Ecke in die Moritzstraße. Sie hat Christoph Haase im Schlepptau, den Fraktionsvorsitzenden der SPD in der Spandauer Bezirksverordnetenversammlung.
Mrs. Sanders:
Bitte, schauen Sie sich das an, Herr Haase! So geht das nun schon seit Wochen. Ihr Genosse Wittenberg und seine Gespielin Monica lungern ohne Sinn und Verstand in der Altstadt herum und ängstigen Kunden und Passanten mit ihren Wolfshunden, die von richtigen Wölfen kaum zu unterscheiden sind. — Ich fordere Sie auf, dagegen einzuschreiten. Bitte, sprechen Sie endlich ein Machtwort!
Haase:
Mit Machtworten ist es bei Wittenberg so eine Sache. Er hört einfach nicht.
Mrs. Sanders:
Aber haben Sie denn keinerlei Möglichkeiten zur Disziplinierung? Können Sie ihn nicht aus der Partei ausschließen lassen?
Haase:
Das wäre ein langwieriges Verfahren. Man müsste dem Genossen parteischädigendes Verhalten nachweisen. Außerdem würde Wittenberg den Rummel um seine Person sicherlich genießen, Statements abgeben, Schmähepisteln verbreiten.
Mrs. Sanders:
Sie wollen sich nicht mit ihm anlegen, habe ich das richtig verstanden?
Haase:
Wir haben in einigen Monaten Abgeordnetenhauswahlen in Berlin, Mrs. Sanders, und müssen unsere bescheidenen Kräfte auf das Wesentliche konzentrieren.
Mrs. Sanders:
Aber für die gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung der Spandauer Altstadt ist es durchaus von Bedeutung, ob halbverrückte Sozialdemokraten weiterhin ungestört hier herumlungern dürfen oder nicht!
Haase:
Über welche Instrumentarien verfügen Sie denn in Ihrer Eigenschaft als hohe Repräsentantin des Altstadt-Managements?
Mrs. Sanders:
Mir sind leider in vielfältiger Hinsicht die Hände gebunden.
Haase:
Ach!
Mrs. Sanders:
Ich hätte sehr gerne einen schlagkräftigen Sicherheitsdienst an meiner Seite. Dagegen gibt es zur Zeit erstaunlicherweise noch Widerstände.
Haase:
Ich verstehe.
Mrs. Sanders:
Wir haben ein ganzes Bündel, einen ganzen Haufen von Institutionen, die sich angeblich um das Wohlergehen der Altstadt bemühen. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings oftmals heraus, dass eher gegeneinander als miteinander gearbeitet wird.
Haase:
Sehr bedauerlich.
Mrs. Sanders:
In London hatte ich es wesentlich einfacher.
Haase:
Vielleicht sollten wir einen Arbeitskreis gründen?
Mrs. Sanders:
Verscheißern kann ich mich alleine, Herr Haase.
Haase:
Ich bitte vielmals um Verzeihung, Mrs. Sanders. Ich werde mich mit Wittenberg unterhalten.
Mrs. Sanders:
Tun Sie das, Herr Haase, tun Sie das! — Guten Tag.
Mrs. Sanders geht nach rechts durch die Moritzstraße ab. Sie verabsäumt nicht, Zoltan und Anastasia einen misstrauischen Blick über die Schulter zuzuwerfen. Christoph Haase geht auf Monica und Wittenberg zu. Die Hunde bellen ein wenig, geben aber gleich wieder Ruhe.
Haase:
Wittenberg, was hat das alles zu bedeuten?
Wittenberg:
Nichts weiter.
Haase:
Aber du musst doch wenigstens für dich selbst einen Sinn darin sehen, hier in aller Öffentlichkeit zu kampieren. — Nein?
Wittenberg:
Es handelt sich um keinerlei Manifestation oder Demonstration. Wir spielen „Mensch ärgere Dich nicht“. — Möchtest du vielleicht mitspielen? Monica hat verschärfte Regeln eingeführt. Man darf nicht nur, sondern man muss einen gegnerischen Stein nach rückwärts schlagen, wenn die Augenzahl stimmt.
Haase:
Nach rückwärts?
Monica:
Normalerweise zieht und schlägt man beim „Mensch ärgere Dich nicht“ nur vorwärts. Das hat sich nun grundlegend geändert. Wenn du eine Drei würfelst und ein feindlicher Stein steht drei Felder hinter dir, dann musst du zuerst diesen Stein schlagen, sonst wird — gepustet.
Haase:
Gepustet?
Wittenberg:
Genau, dein eigener Stein kommt auf Anfang, weil du die neue Regel nicht beachtet hast.
Haase:
Aber ihr beiden Anarchisten dürft doch nicht einfach die Regeln des „Mensch-ärgere-Dich-nicht“-Spiels ändern. — Wo kämen wir da hin? Wenn das jeder machte, könnte bald überhaupt nicht mehr „Mensch ärgere Dich nicht“ gespielt werden!
Wittenberg:
Ich war auch erst dagegen. Dann jedoch stellte sich heraus, dass das Spiel dadurch interessanter und abwechslungsreicher wird, besonders wenn vier Personen mitmachen. Man wird ständig gezwungen, in beiden Richtungen zu denken, vorwärts und rückwärts.
Ein Angestellter von Burger Prince, der wie das Firmenmaskottchen gekleidet ist und auch eine schwarze Perücke trägt, um die Ähnlichkeit noch etwas deutlicher zu machen, bringt Softdrinks und Hamburger für Monica und Wittenberg.
Angestellter:
Mit freundlicher Empfehlung des Hauses Burger Prince!
Der Mann macht sogar eine leichte Verbeugung, dann will er wieder abgehen. Ein Fotograf ist im Hintergrund aufgetaucht und ruft ihn zurück.
Fotograf:
Einen Moment bitte, junger Mann! — Wir brauchen erst noch ein Foto. Ihr Chef hat sicherlich nichts dagegen.
Der Angestellte kommt wieder zurück und stellt sich neben Monica und Wittenberg. Anastasia und Zoltan schnüffeln an den Hacksteaks. Christoph Haase steht verlegen etwas abseits.
Fotograf:
Kommen Sie Herr Haase, seien Sie kein Spielverderber! Mit Ihnen auf der rechten Bildseite kommen wir zu einem ausgewogenen Arrangement, das bestimmt Aufmerksamkeit erregen wird.
Christoph Haase tritt zögernd näher.
Haase:
Übertriebene Aufmerksamkeit für Monica und Wittenberg möchten wir allerdings tunlichst vermeiden.
Fotograf:
Ein kleines Stückchen noch, Herr Haase, und jetzt ein freundliches Gesicht, wenn ich bitten darf. — Wunderbar! Ich bedanke mich herzlichst!
Der Fotograf hat ein paar Aufnahmen gemacht und zieht zufrieden ab durch die Moritzstraße. Der Angestellte geht zurück ins Burger Prince. Monica nimmt die Hacksteaks aus den Hamburger-Brötchen und füttert damit Anastasia und Zoltan.
Wittenberg:
Ob das Zeug auch gut ist für die Hunde?
Monica:
Ich meine, es wird nicht gleich Gift sein, was sie den Leuten verkaufen.
Wittenberg:
Bist du sicher?
Haase:
Ich muss mich leider verabschieden.
Wittenberg:
Die Pflicht ruft, was, Genosse Haase?
Haase:
Du hast es erfasst, Wittenberg. — Und wirst du über das nachdenken, was ich gesagt habe?
Wittenberg:
Ich verspreche, ich werde an nichts anderes mehr denken, Christoph. Ich mache mir sogar einen doppelten Knoten ins Taschentuch.
Monica:
Wittenberg ist nämlich normal kein besonders nachdenklicher Mensch, Herr Haase.
Haase:
Ach, schert euch doch zum Teufel, ihr beiden Spinner!
Christoph Haase enteilt durch die Carl-Schurz-Straße (links) in Richtung Rathaus.
(19. August 2016)