Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016
Zwölfte Szene: Behnitz und Kolk
Monica und Wittenberg, Anastasia und Zoltan haben sich zur katholischen Kirche St. Marien am Behnitz geflüchtet. Rechts neben der Kirche, vor einem kleinen Anbau, der sicherlich nicht als „Seitenschiff“ bezeichnet zu werden braucht, nach hinten versetzt, steht eine Bank, auf die Monica und Wittenberg sich setzen. Vor der Bank eine alte Brunneneinfassung aus Feldsteinen, etwa ½ Meter hoch. Die Kirchenfenster sind vergittert worden, um die bunten Scheiben vor den Steinwürfen der Vandalen zu schützen. Direkt oberhalb der Bank ist eins dieser Fenster zu sehen, links am Hauptgebäude ein oder zwei weitere, etwas größere. Rechts außen an dem Anbau das auffällige, helle Regenabflussrohr. Unweit der Bank, rechts, steht ein Abfallbehälter, der allerdings schon länger nicht geleert worden ist. Der Wind hat allerlei Müll aus Papier und Plastik in der kleinen gärtnerischen Anlage vor dem Zaun, der das Kirchengelände von dem benachbarten städtischen Kinderspielplatz trennt, verteilt.
Wittenberg:
Die Stadt und den Müll haben wir schon — jetzt fehlt uns nur noch der Tod.
Monica:
Sage mal, Wittenberg, wie kommst du bloß auf solche trüben Gedanken?
Wittenberg:
Das macht die Melancholie ganz automatisch.
Monica:
Dagegen solltest du aber dringend etwas unternehmen!
Wittenberg:
Leichter gesagt als getan.
Monica:
Juliane und ich, wir wollen ins Fitnessstudio gehen.
Wittenberg:
So? Warum denn?
Monica:
Das brauchst du nicht ganz genau zu wissen, Wittenberg, es handelt sich einmal mehr um eine Frauensache.
Wittenberg:
Frauensachen sind echt ätzend, meiner Meinung nach.
Monica:
Dann sollen es am besten auch unsere Sachen bleiben, Wittenberg, belaste deine komplizierte Psyche nicht zusätzlich damit.
Wittenberg:
Wollt ihr Muckis machen?
Monica:
Das sicherlich nicht, jedenfalls nicht in erster Linie; es geht um systematisches Bewegungstraining, um Dehnen und Strecken.
Wittenberg:
Früher wurden Menschen aus den niederen Ständen aufs Rad geflochten. Das war auch eine Art Einübung in Dehnen und Strecken.
Monica:
Wittenberg, deine Assoziationen sind heute wieder einmal vollkommen unmöglich!
Wittenberg:
Ich habe mir ein Messer gekauft.
Monica:
Was denn für ein Messer?
Wittenberg:
Das offizielle Kampfmesser der Bundeswehr. In einem Laden …
Monica:
Zeig her!
Wittenberg kramt in seinem Rucksack, sucht und findet endlich das Messer. Er reicht es Monica herüber. Die zieht das Messer vorsichtig aus der Messerscheide.
Monica:
Du musst vollkommen verrückt sein, Wittenberg!
Wittenberg:
Es war kein spontaner Kauf, das muss ich zugeben. — Ich ging mit der Idee gewissermaßen schwanger.
Monica:
Du hast etwas ausgebrütet?
Wittenberg:
Neulich in der U-Bahn. Ich wollte Gleisdreieck umsteigen, Richtung Ruhleben. Die Tür war schon offen, aber der Zug rollte noch langsam weiter. Plötzlich stand der Mann, der die Obdachlosenzeitung verkaufen wollte, hinter mir und flüsterte mir zu: „Spring doch! Warum springst du denn nicht? Traust du dich nicht zu springen?“ Dann kicherte er wie ein Irrsinniger, so als wäre er aus der Landesnervenklinik oder aus einem schlechten amerikanischen Gangsterfilm entsprungen. — Ich versuche, mich an das Gesicht des Mannes zu erinnern; es gelingt mir nicht.
Monica:
Das ist direkt unheimlich, Wittenberg, erzählst du mir auch die Wahrheit?
Wittenberg:
Es war ein kleiner Mann; er reichte mir höchstens bis zur Schulter.
Monica:
Einer, der dir bis zur Schulter reicht, ist immer noch ziemlich groß, du langes Elend.
Wittenberg:
Eben noch hatte er mit beachtlichem rhetorischem Geschick den Fahrgästen der BVG seine Postille angepriesen, dabei Friedfertigkeit und Harmlosigkeit heuchelnd, um gleich darauf einen Wildfremden zu provozieren, sich in Unfallgefahr zu begeben. — Denn das Abspringen von einem noch fahrenden Zug ist riskant. Wer solche Tricks nicht von Jugend auf eingeübt hat, sollte in späteren Jahren nicht mehr damit anfangen.
Monica:
Kam das unverhofft? Hast du ihm eine Zeitung abgekauft?
Wittenberg:
Nein, ich kaufe niemals etwas in der U-Bahn oder in der S-Bahn. — Ich müsste mein Portemonnaie hervorholen.
Monica:
Und?
Wittenberg:
Ich meine, schon damit würde ich mich angreifbar machen.
Monica:
Interessant …
Wittenberg:
Wahnsinnig interessant!
Monica:
Doch, schon. — Hattest du vielleicht eine Art Vorahnung?
Wittenberg:
Bestimmt ein unbehagliches Gefühl, als er hinter mir stand, noch bevor er zu sprechen begann — ja.
Monica:
Woran hast du in diesem Augenblick gedacht?
Wittenberg:
Daran, dass es in Berlin brutale Menschen gibt, die sich einen Spaß daraus machen, ihnen vollkommen Unbekannte vor den einfahrenden Zug zu stoßen.
Monica:
Und schützt du dich vor denen?
Wittenberg:
Wenn ich auf einen Zug warten muss, dann stelle ich mich immer mit dem Rücken zur Bahnsteigwand oder ich setze mich auf eine der Bänke, die normalerweise in der Mitte der Bahnsteige aufgestellt sind. Erst wenn der Zug eingefahren ist, gehe ich nach vorne zum Einsteigen. — Und wenn mir die eine Bahn zu voll ist, warte ich schon mal auf die nächste.
Monica:
Das grenzt aber bedenklich an Paranoia, findest du nicht?
Wittenberg:
Eine milde Form von Paranoia hat in Berlin noch niemandem geschadet.
Monica macht Anstalten, die Schärfe des Messers mit der Spitze ihres linken Zeigefingers zu prüfen.
Wittenberg:
Mach das lieber nicht, Monica! — Das Ding ist wirklich verdammt scharf.
Monica:
Was hat du damit vor, Wittenberg?
Wittenberg:
Ich weiß es noch nicht.
Monica:
Muss man langsam Angst vor dir bekommen?
Wittenberg:
Ich hoffe, dass das nicht der Fall sein wird.
Monica:
Aber du bist dir deiner selbst keineswegs sicher?
Wittenberg:
Nein.
Monica:
Deine tödliche Waffe ist hiermit beschlagnahmt, Wittenberg, du bekommst sie erst wieder zurück, wenn du klarer siehst.
Monica steckt das Messer wieder in die Messerscheide. Dann zieht sie ein recht großes, violettes Tuch aus der Brusttasche ihrer Jacke und wickelt das gefährliche Mordinstrument langsam, sorgfältig darin ein. Schließlich verstaut sie alles in den beträchtlichen Tiefen ihres stattlichen, vermutlich aus Bayern herstammenden Rucksackes.
Monica:
So! Die Gefahr ist zunächst einmal gebannt.
Wittenberg:
Wenn du es sagst, Monicaleben.
Monica:
Ich habe, ehrlich gesagt, schon daran gedacht, mir Pfefferspray zu besorgen.
Wittenberg:
Aber du hast es am Ende doch sein lassen?
Monica:
Nein, ich habe es mir anders überlegt.
Wittenberg:
Warum?
Monica:
Es kam mir plötzlich albern vor.
Wittenberg:
Albern?
Monica:
Es wäre in meinen Augen eine vollkommen inadäquate Überreaktion gewesen, wenn ich mich auf eine solch merkwürdige Weise bewaffnet hätte.
Wittenberg:
Außerdem kommt es beim Pfefferspray immer auf die Windrichtung an. Man muss höllisch aufpassen, sonst kriegt man das Zeug selber ins Gesicht.
Monica:
Was weißt du über Diabetes?
Wittenberg:
Wenig. — Wieso?
Monica:
Bei Julianes Mutter sind überhöhte Blutzuckerwerte festgestellt worden.
Wittenberg:
Manchmal fallen Diabetiker in Ohnmacht. Vor hier auf jetzt. Eben ist dein Chef noch dabei, dich anzuschnauzen, aber plötzlich und unerwartet sackt er in seinem Polstersessel zusammen und ist komplett weggetreten. Man muss ihn auf die Couch oder notfalls auf den Fußboden legen und sich um ihn kümmern. Am besten, man ruft für alle Fälle den Notarzt. Wahrscheinlich ist der Diabetiker längst wieder auf den Beinen, wenn der Rettungswagen eintrifft, aber Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste.
Monica:
Ein Schockzustand?
Wittenberg:
Gerade zum Beginn einer Diabetes-Therapie, wenn das richtige Medikament herausgefunden und die genaue Dosierung ermittelt werden muss, kann es zu solchen hypoglykämischen Zwischenfällen kommen. Deshalb sollten Zuckerpatienten stets etwas Zucker oder besser noch einen Apfel bei sich haben.
Monica:
Aber ich denke, Zuckerpatienten haben mehr als genug Zucker in ihrem Körper, im Blut und auch sonst, sogar im Urin?
Wittenberg:
Willst du dich ernsthaft mit dem Thema beschäftigen?
Monica:
Warum nicht?
Wittenberg:
Das Schlüsselwort, das auf der ganzen Welt verstanden wird, lautet: „Insulin“.
Monica:
Man müsste wissen, wie Insulin funktioniert.
Wittenberg (doziert):
Die Bauchspeicheldrüse ist ein kleines, längliches, fleischiges und doch weiches Organ. Es liegt zwischen Magen und Wirbelsäule in der Nähe des Zwölffingerdarmes. Die Sekrete der Bauchspeicheldrüse wurden als „Trypsin“, „Diastase“ und „Lipase“ bezeichnet. Es galt bereits als gesichert, dass sie eine überaus bedeutsame Rolle bei der Verdauung der Eiweiße, Kohlehydrate und Fette zu spielen hätten.
Der Pathologe Paul Langerhans, Professor an der Universität Freiburg im Breisgau, entdeckte 1869 unter dem Mikroskop einen Zelltypus im Pankreas, der sich im Aussehen völlig von allen anderen dort vorkommenden Zellen unterschied. Langerhans berichtete, diese Zellen sähen „wie Inseln“ aus. — Nach ihrem Entdecker wurden jene spezifischen und rätselhaften Zellstrukturen der Bauchspeicheldrüse als „Langerhans’sche Inseln“ benannt. Langerhans konnte allerdings noch nichts über die besondere Funktion „seiner“ Inselzellen aussagen.
Der amerikanische Pathologe Eugene Lindsay Opie stellte im Jahre 1901 fest, dass bei einigen Patienten, die an Diabetes gestorben waren, das Gewebe der Langerhans’schen Inseln geschrumpft und verhärtet war. Dr. Opie diagnostizierte einen Verfallsprozess, der auch an anderen Geweben festgestellt werden kann und als „hyaline Degeneration“ bezeichnet wird.
Zwei an der Universität Straßburg tätige deutsche Ärzte, Dr. Oskar Minkowski und Dr. von Mering, hatten bereits berichtet, dass ein Hund, dem das Pankreas experimentell entfernt worden war, nach wenigen Tagen schwer zuckerkrank geworden sei.
Mitten im Ersten Weltkrieg, 1916, war es dann der britische Physiologe Sir Edward Sharpey-Schafer, der die Theorie aufstellte, Diabetes entstehe und entwickele sich durch das Fehlen eines internen Sekrets der Langerhans’schen Inselzellen. Sharpey-Shafer gab der von ihm postulierten, wirkungsmächtigen Substanz den Namen „Insulin“ — nach dem lateinischen Wort „insula“ für „Insel“.
Damit war das Arbeitsprogramm einer neuen Forschergeneration vorgegeben: Es ging primär darum, etwaige Sekrete der Langerhans’schen Inseln zu isolieren, zu reinigen und zu standardisieren, um sie zunächst im Tierversuch und anschließend bei der Behandlung von Menschen erfolgreich und lebensrettend einsetzen zu können.
Von dem berühmten französischen Wissenschaftler Claude Bernard stammte die Hypothese, das Pankreas müsse als eine Art „Doppelorgan“ verstanden werden: Einerseits produziere es die bekannten Enzyme oder „Verdauungssäfte“ — ein Vorgang der „äußeren Sekretion“. Andererseits sei es durchaus vorstellbar, dass der vielleicht von den Langerhans’schen Inseln herstammende antidiabetische Faktor direkt in das Blut abgegeben werde, um hernach im Gesamtorganismus seine Wirkungen zu entfalten — dies wiederum sei als ein Vorgang der „inneren Sekretion“ aufzufassen. Das nach wie vor hypothetische „Insulin“ konnte somit unter die 1897 von den Engländern Bayliss und Starling vorgeschlagene Kategorie der „Hormone“ gefasst, also der Klasse jener Stoffe zugeordnet werden, die zunächst in einem bestimmten Gewebe oder Organ synthetisiert und durch das Kreislaufsystem verteilt, erst an einem entfernteren Ort ihren besonderen Wirkmechanismus zur Anwendung bringen.
Den entscheidenden Durchbruch zur Bekämpfung der damals oft tödlich verlaufenden Zuckerkrankheit verdankt die Menschheit dem Kanadier Frederick Grant Branding, seinem Mitarbeiter Charles Herbert Best, Amerikaner urkanadischer Herkunft, sowie den Hunden Susy und Marjorie, außerdem zahlreichen anderen Versuchstieren, die für die Isolierung des Insulins ihr Leben lassen mussten.
Dr. Branding hatte 1921 die im Rückblick einfach und folgerichtig erscheinende Idee — man muss nur eben im passenden Augenblick darauf kommen —, die Bauchspeicheldrüsen von Hunden durch Abbinden der Ausführungskanäle zum Zwölffingerdarm einer kontrollierten Atrophie zuzuführen. Nur diejenigen Zellen, die die Verdauungsenzyme produzieren, sollten verkümmern, nicht jedoch die Langerhans’schen Inseln. Aus den unbeschädigten Inselzellen wollten Branding und Best dann das theoretisch vorausgesagte Insulin in möglichst reiner Form, also unbeeinträchtigt von Beimengungen der Verdauungsenzyme, die vermutlich alle früheren Versuche, Diabetes mit Pankreas-Extrakten zu behandeln, fehlschlagen ließen, extrahieren.
Monica beugt sich zu Anastasia und Zoltan herab und streichelt sie liebevoll.
Monica:
Habt ihr genau zugehört, was Professor Wittenberg uns eben in populärwissenschaftlicher Privataudienz erzählt hat? Nein? Also wenn Susy und Marjorie nicht gewesen wären, müssten heutzutage noch immer viele Menschen an der Zuckerkrankheit elendiglich zugrunde gehen. — Was sagt ihr dazu?
Anastasia und Zoltan drängen zum Aufbruch. Sie springen ein paar Meter voraus und drehen sich dann nach Frauchen und Herrchen um, die endlich aufstehen und nachkommen mögen.
Wittenberg:
Hunde sind eben doch die besseren Menschen.
(1. September 2016)