„Freie Affen“ Teil 13

Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016

Dreizehnte Szene: Zitadelle

Monica und Wittenberg, Anastasia und Zoltan besuchen die große Ausstellung historischer Bildhauerkunstwerke aus den Berliner Bezirken, die auf den Höfen der Spandauer Zitadelle zusammengetragen worden sind und nun dem staunenden Publikum in völlig neuer Perspektive präsentiert werden. Höhepunkte sind zweifellos die steinernen Überbleibsel der legendären „Puppenallee“ aus dem Tiergarten und, natürlich, das Leninhaupt. Es stammt von dem Lenin-Denkmal her, das zu DDR-Zeiten auf dem Leninplatz in der Nähe des Volksparks Friedrichshain gestanden hatte. Nicht lange nach der konterrevolutionären „Wende“ war die siegreich gebliebene Reaktion darangegangen, das zum Gedenken an die Russische Oktoberrevolution errichtete Mahnmal unter Polizeischutz zu zerstückeln und niederzureißen. Immerhin noch recht zahlreich erschienene Gegendemonstranten hatten dabei das seltene Vergnügen, den zähen, gleichsam militanten Widerstand des granitenen Lenins gegen seine gekauften Zerstörer beobachten zu können. Die willigen Destruktivkräfte stießen auf ungeahnte Schwierigkeiten. Sie brauchten mehrere Tage, um überhaupt erste Ansatzpunkte für ihre in der Tat beeindruckenden Werkzeuge zu finden. Die gemeine Denkmalsschändung verzögerte sich beträchtlich; die steigenden Kosten spielten allerdings, wie nicht anders zu erwarten, für den bürgerlichen Staat nur eine untergeordnete Rolle.

Monica:
Und du bist damals leibhaftig live dabei gewesen?

Wittenberg:
Selbstverständlich!

Monica:
Aber was habt ihr euch davon versprochen? Was wolltet ihr erreichen?

Wittenberg:
Wir haben die Abrissarbeiten beobachtet und uns diebisch darüber gefreut, dass sie nur quälend langsam vorwärts kamen.

Monica:
Aber ihr habt die Bauarbeiter doch nicht etwa angegriffen?

Wittenberg:
Nein, das nicht, wir wussten genau, dass unser Spiel verloren war, aber wir wollten dabeibleiben, bis zum bitteren Ende.

Monica:
Der Bauplatz war sicherlich abgesperrt?

Wittenberg:
Worauf du dich verlassen kannst! Alles rundherum vergittert, bloß der Stacheldraht hat noch gefehlt. Polizeibeamte in ausreichender Anzahl standen ebenfalls zur Verfügung. Aber alles blieb friedlich. Wir wurden nicht einmal zurechtgewiesen oder zur Ordnung gerufen. Man beobachtete uns so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich. — Heute würde die Polizeiführung vermutlich von einer erfolgreich angewendeten Deeskalationsstrategie sprechen.

Monica:
Es ging ums Ausharren?

Wittenberg:
Weißt du, es ging um den Kopf.

Monica:
Es geht immer um den Kopf.

Wittenberg:
Der Plan der technisch intelligenten und begabten Handlanger bestand darin, Lenin „sauber“ zu enthaupten, das provozierende Denkmal sozusagen „denkmalgerecht“ zu schänden. — Sie haben es sich nicht getraut, es einfach zu zertrümmern oder zu sprengen.

Monica:
Auch Gewalt gegen Sachen braucht eine gewisse Ästhetisierung, um nicht von vornherein abstoßend zu wirken.

Wittenberg:
Jedenfalls gingen nicht bloß Stunden, sondern mehrere Tage ins Land, bis es den Bauarbeitern endlich gelang, die ersten Granitblöcke des Denkmals abzutragen. — Die Kosten explodierten.

Monica:
Wenn man deutschen Proleten genug bezahlt, sind sie offenbar zu jeder Schandtat bereit.

Wittenberg:
So würde ich es auf keinen Fall formulieren wollen, Monica.

Monica:
Bestimmt nicht, Wittenberg, das wäre dir wieder einmal viel zu direkt und zu drastisch.

Wittenberg:
Unsere ungeteilte Aufmerksamkeit sollte vielmehr den angeblich demokratischen Auftraggebern für die technische Intelligenz und für deren Zuarbeiter gelten. Sozialdemokraten vom berlinischen Typus sehen naturgemäß wenig Sinn darin, ausgerechnet Lenins ehrend zu gedenken. — Nichtsdestotrotz, die Hände sollen ihnen abfaulen, den verdammten Kollaborateuren!

Monica:
Wittenberg, nun mäßige dich augenblicklich wieder. Immerhin erlebt der Genosse Lenin aus Ost-Berlin jetzt in Spandau, also im westlichsten Westen des alten West-Berlins, eine Art monumentaler Wiederauferstehung. — Erinnerst du dich an Brechts Gedicht von der „unbesieglichen Inschrift“?

Wittenberg:
Sie ließ sich nicht übertünchen, oder?

Monica:
Es wurden verschiedene Methoden ausprobiert, die Inschrift auszutilgen, aber es gelang nicht.

Wittenberg:
Die Episode stammt aus einem Gefängnis. Politische Gefangene hatten die Parole „Hoch Lenin!“ an eine Wand geschrieben, und zwar mit ihren bescheidenen, im Knast­alltag zuhandenen Mitteln.

Monica:
Mit Kopierstift. — Der Gefängnisdirektor gab den Befehl, die Inschrift zu löschen.

Wittenberg:
Die Subalternen schienen wieder einmal zu gehorchen. Aber alle penibel angewandten handwerklichen Arbeitsweisen brachten eher das gegenteilige Resultat.

Monica:
Die famose Inschrift kam am Ende jedweden Arbeitsganges wieder hervor. Sie tauchte immer wieder auf.

Wittenberg:
Was genau taten die Inschriftenauslöscher? — Es fällt mir nicht mehr ein.

Monica:
Der erste Beauftragte erschien mit einem langstieligen Pinsel und einem Eimer Kalk. Er zog aber die Schriftzüge nach mit seinem Kalk. Das Ergebnis kann sich sogar der kleine Moritz gut vorstellen.
Der zweite Beauftragte, wieder ein Maler, wollte es besser machen. Er nahm einen breiten Pinsel und bestrich die Wand großflächig mit Kalk, so dass die „drohende Inschrift“, wie Brecht sie nennt, für einige Stunden verschwand. Aber nach dem Trocknen der Farbe war am nächsten Morgen wieder gut zu lesen: „Hoch Lenin!“
Der dritte Beauftragte der Gefängnisdirektion war ein Maurer. Er gab sich große Mühe und kratzte und schabte mit Messern und Geräten in stundenlanger Arbeit Buchstabe für Buchstabe von der Zellenwand. Hernach sah er sich das Ergebnis seiner Arbeit an, schien zufrieden und verschwand. Die „unbesiegliche Inschrift“ stand nun, farblos zwar, aber kämpferischer als zuvor, tief in die Mauer hineingeschlagen: „Hoch Lenin!“
Der Gefängnisdirektor gab schließlich den Befehl, die Mauer abzureißen und neu zu errichten.

Wittenberg:
Und wenn die Arbeiter sich nun absichtlich dumm angestellt hätten?

Monica:
Vorstellbar wäre das durchaus; ich meine, merkwürdig ist das Verhalten von Handwerkern allemal. — Insbesondere die Idee, die verbotene Inschrift zu allem Überfluss auch noch auszukratzen oder auszustemmen verdient Verwunderung. — So blöde kann eigentlich niemand sein, oder vielleicht doch?

Wittenberg:
Wie gefallen dir die Eisenbolzen in Lenins Kopf?

Monica:
Die sehen schlimm aus, abscheulich, wie das chirurgische Instrumentarium aus einem Horrorfilm.

Wittenberg:
Es geht immer um den Kopf.

Monica:
Daran wurden sicherlich die Drahtseile befestigt?

Wittenberg:
Und dann gingen die Werktätigen aus dem Westen endlich daran, Lenins Kopf abzuseilen. — Ich werde es nie vergessen.

Monica:
Es geht immer um den Kopf.
Es geht immer gegen den Kopf.
Es geht immer darum, einen klaren Kopf zu verhindern.
Es geht immer um die Herrschaft über die Köpfe.

Wittenberg:
Und der Kampf um die Köpfe wird mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln geführt.

Monica:
Und es ist auch nicht immer leicht, den Kampf um die Köpfe als solchen zu erkennen.

Wittenberg:
Das Ideologische, das Falsche, das Verkehrte, das Gefährliche weiß sich meistens gut zu tarnen.

Monica:
Ideologische Chimären.

Wittenberg:
Chimären sind perverse …

Monica:
… aus verschiedenen Tierarten, die sich nicht kreuzen lassen, zusammengesetzte Phantasmagorien.

Wittenberg:
Wohin gehen wir jetzt?

Monica:
Zum Reformationsplatz.

Wittenberg:
Ich frage mich bloß, warum sie Lenins Kopf auf die Seite gelegt haben?

Monica:
Vielleicht weil es so am einfachsten war? Wenigstens brauchten die Museumsleute keine komplizierten technischen Vorrichtungen zu entwickeln, um den Kopf aufrecht zu halten.

Wittenberg:
An Lenins Gesichtsausdruck wurde nicht manipuliert; die frischen Wunden im Granit würde man sehen können.

Monica:
Es hätte auch sicherlich in der Zeitung gestanden.

Wittenberg:
Oder im Internet, Monica, heutzutage stehen die wichtigen Sachen eher im Internet.

Monica:
Und was nicht im Internet steht, das gibt es nicht oder es ist nicht wichtig.

Wittenberg (nachdenklich):
Es sieht schon ein bisschen so aus, als ob Lenin schläft.

Monica:
Ein schlafender Riese …

Wittenberg (erfreut):
Ein schlafender Riese, der eines Tages wieder erwachen könnte?

Monica:
Wie Barbarossa? Der Kaiser Rotbart?

Wittenberg:
Warum nicht?

Monica:
Fürchtest du dich vor dem Tod, Wittenberg?

Wittenberg:
Vor dem Tod nicht, eher vor dem Sterben.

Monica:
Was stellst du dir vor?

Wittenberg:
Ich glaube, dass ich Krebs schrecklich finden würde.

Monica:
Wahrscheinlich gibt es niemanden, der das nicht ebenso empfinden dürfte.

Wittenberg:
Kehlkopfkrebs.

Monica:
Wieso gerade der?

Wittenberg:
Ich könnte mir vorstellen, dass ich das eines Tages kriegen werde.

Monica:
Aber wie kommst du nur darauf, Wittenberg?

Wittenberg:
Das hängt mit meinem kaputten Magen zusammen, mit dem ständigen säuerlichen Aufstoßen und dem Reflux in der Nacht.

Monica:
Und weiter?

Wittenberg:
Das reizt und schädigt die Schleimhäute im Rachenraum und in der Speiseröhre. Und wenn es richtig ist, dass Krebs sich vor allem an Epithelübergängen ausbildet, dann sind wir genau an der richtigen Stelle.

Monica:
Wenn die Zeit gekommen ist, wenn die Stunde schlägt, ist der Tod der beste Freund, den der Mensch jemals hatte.

Wittenberg:
Er nimmt dich in die Arme und begleitet dich auf deinem letzten Gang.

Monica:
Aber ist das nicht furchtbar morbide, was wir jetzt reden, Wittenberg? Wenn die Leute uns hören könnten …

Wittenberg:
Sie würden sich wundern, sich vielleicht sogar empören. Aber später, wieder zu Hause angekommen, würden sie vielleicht darüber nachdenken.

Monica:
Lenin wird für entsetzliches Unrecht verantwortlich gemacht.

Wittenberg:
Hauptsächlich von halbgebildeten Ideologen, die es ablehnen, sich gründlich mit ihm zu beschäftigen.

Monica:
Ein „lupenreiner Demokrat“ ist er aber sicherlich nicht gewesen.

Wittenberg:
Wohl kaum.

Monica:
Das scheint dich nicht besonders zu stören, Wittenberg, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.

Wittenberg:
Es gab damals Bürgerkrieg, Hungersnöte und zu allem Überfluss auch noch Interventionen aus dem Ausland. Das gerade eben nach dem Ersten Weltkrieg neu formierte Polen hatte nichts Besseres zu tun, als Krieg gegen Russland zu führen. ─ Stalin hat den Polen das niemals vergessen.

(5. September 2016)