Freiherr vom Stein Denkmal

„Freie Affen“ Teil 4

Freie Affen Theaterstück Von Reinhard Tantow Berlin, April/Mai 2016

Vierte Szene: Lindenufer

Monica, Wittenberg und die Wolfshunde am Lindenufer in Spandau. Im Hintergrund ein bescheidenes Mahnmal zur Erinnerung an die Zerstörung der Spandauer Synagoge durch die Nazis.

Monica:

Marienkäfer, echt?

Wittenberg:

Marienkäferchen als Symbol …

Monica:

Wofür?

Wittenberg:

Als Symbol für die SPD in Sachsen-Anhalt: schwarze Punkte, aber auf noch erkennbarem rotem Untergrund.

Monica:

Wie überaus niedlich und womöglich sogar — verniedlichend.

Wittenberg:

Das Bild kam unlängst im Wahlkampf auf; es hat sich mir eingeprägt. Mein Gedächtnis funktioniert nämlich nicht richtig. Die Dinge, die ich mir merken möchte, vergesse ich meist wieder. Aber Sachen, die nicht wichtig sind, speichern sich unwillkürlich über Jahrzehnte. — Jedenfalls passt es schon, das Marienkäfersymbol; dummerweise werden die schwarzen Pünktchen allmählich zu schwarzen Flecken. Und am Ende eines langen Abschieds von den ebenso vernünftigen wie heroischen Grundprinzipien der SPD sehen wir einen erschreckenden schwarzen und stinkenden Mistkäfer vor uns.

Monica:

Es gibt einen Roman von Françoise Sagan, der heißt „Blaue Flecken auf der Seele“.

Wittenberg:

Also, es mehren sich, halbwegs poetisch gesprochen, die „schwarzen Flecken auf der roten Soziseele“.

Monica:

Seit wann interessierst du dich für Angelegenheiten außerhalb deiner langweiligen Wilhelmstadt, Wittenberg?

Wittenberg:

Meine Großmutter stammte aus Sachsen-Anhalt.

Monica:

So?

Wittenberg:

Aus Ober-Teutschenthal im Mansfelder Seekreis bei Halle an der Saale.

Monica:

Seekreis? Gibt es denn Seen im Mansfeldischen?

Wittenberg:

Das haben wir Großmutter auch manchmal gefragt. — Sie wusste es selber nicht. Schließlich war sie noch als Kind nach Spandau gekommen, und die recht große Familie hatte andere Sorgen als Heimatkunde.

Monica:

Und bist du schon einmal dort gewesen?

Wittenberg:

Nein.

Monica:

Ist dir Teutschenthal keine Reise wert?

Wittenberg:

Eines schönen Tages werde ich sicherlich hinfahren.

Monica:

Das wäre dann eine Art sentimentalische Reise zurück zu den Ursprüngen?

Wittenberg:

Warum nicht?

Monica:

Ich halte das für keine besonders gute Idee. Ich meine, du solltest es lieber bleibenlassen.

Wittenberg:

Aber wir Deutschen genießen bekanntlich Reisefreiheit, vorausgesetzt natürlich, es ist genug Reisegeld vorhanden.

Monica:

Sei nicht starrsinnig, Wittenberg, die Neo-Nazis werden dich jagen und töten, und sie werden anschließend deine sterblichen Überreste in die Saale schmeißen. Oder in einen anderen reißenden Fluss oder in einen tiefen See. — Jedenfalls ins kalte Wasser!

Wittenberg:

Das ist, wenn ich es recht bedenke, nicht gänzlich auszuschließen. Trotzdem, ich …

Monica:

Aber vermutlich willst du sowieso nicht gleich morgen oder übermorgen aufbrechen, oder?

Wittenberg:

In absehbarer Zeit möchte es schon sein; ich werde nicht jünger.

Monica:

Was sagst du zu den Wahlergebnissen in Sachsen-Anhalt?

Wittenberg:

Ich habe nichts anderes erwartet.

Monica:

Ein Erdrutsch.

Wittenberg:

Eine rechtsradikale Kulturrevolution. — Die meisten Leute sehen bedauerlicherweise keine guten Gründe mehr darin, die SPD zu wählen.

Monica:

Aber das erklärt für mich längst nicht den triumphalen Wahlsieg der AfD.

Wittenberg:

Wenn die SPD immer nur mitmacht und mitregiert, keine praktikablen Alternativen zu Rüstungsexporten und Kriegspolitik mehr aufweist, dann bleibt „den Menschen draußen im Lande“, wie Willy Brandt sie zu bezeichnen liebte, kein anderer Ausweg mehr als eine experimentelle Protestwahl.

Monica:

Vielleicht hätte ich nicht fragen sollen; wir geraten in unangenehmes Politisieren.

Wittenberg:

Ich vergleiche die SPD gerne mit der Katholischen Kirche. Die historische Aufgabe — um nicht zu sagen: die Mission — der Sozialdemokratie war es von Anfang an, also seit etwa 150 Jahren, die arbeitenden Klassen und ihre kleinbürgerlichen und bürgerlichen Verbündeten politisch, aber im Rahmen des Möglichen auch kulturell zusammenzuhalten. Das gelang eine Zeitlang in erstaunlichem Maße. Die Sozis etablierten eine Gegengesellschaft und wurden zu einer Macht im Staate.

Monica:

Wittenberg, ein wehmütiges Erinnern an die historischen Erfolge der deutschen Arbeiterbewegung zu Kaisers Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg hilft heute niemandem mehr weiter. — Es ist mittlerweile ein Leben nach der SPD in Deutschland durchaus vorstellbar.

Wittenberg:

Die äußere Hülle der SPD wird vermutlich bestehen bleiben.

Monica:

Dafür sorgt im Zweifelsfall sogar die Reaktion, Wittenberg.

Wittenberg (empört):

Das war gemein, Monica!

Monica:

Ist doch wahr!

Wittenberg:

Ehrlich gesagt, ich verstehe ziemlich genau, was du meinst. — Deutsche Sozialdemokraten quasi als die nützlichen Idioten des Kapitals.

Monica:

Wohl eher noch „Idioten“ als „nützlich“, leider. Der alte Bebel würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er wüsste …

Wittenberg:

Was nun aber die in ihrem antimuslimischen Markenkern in der Tat Rechtsradikalen anbelangt, von deren sensationellen Wahlerfolgen wir ausgegangen sind: Auch und gerade die AfD hat der SPD reichlich Stimmen abgenommen.

Monica:

Und sie haben zahlreiche Nichtwähler, gewohnheitsmäßige Wahlverweigerer für sich mobilisieren können. Das feiert die vorläufig noch amorphe Rechte jetzt als ihren originären Beitrag zur Verbesserung der politischen Kultur im Bundesland Sachsen-Anhalt. — Die relativ hohe Wahlbeteiligung hat der AfD also nicht geschadet, im Gegenteil.

Wittenberg:

Nichtwähler gehören in meiner katholisierenden Perspektive natürlich ebenfalls zum Stimmenreservoir der SPD. — Das sind die niederen und niedrigsten Stände und Schichten, die schon lange die Schnauze gestrichen voll haben.

Monica:

Die die SPD aber schon lange nicht mehr erreicht und wohl auch gar nicht mehr zu erreichen beabsichtigt. — Es geht in der Partei das Gerücht, der deutsche Arbeiter existiere im Grunde nicht mehr. Der sei von der rasanten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts gleichsam zum Aussterben gebracht worden — ein Dinosaurierschicksal.

Wittenberg:

Aus Arbeiterkindern sind Lehrer geworden.

Monica:

Und aus der Arbeiterpartei eine Lehrerpartei?

Wittenberg:

Rechtskundige, Lehrer und Bildungspolitiker geben den Ton an. Aber es handelt sich um eine einseitige Konzeption von Bildungspolitik, die ausschließlich auf den individuellen Aufstieg durch Bildung setzt und dabei die soziale Emanzipation der subalternen Klassen und Schichten der Gesellschaft total vernachlässigt.

Monica:

Das Bürgertum besitzt bereits mehr als genug Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, die seine Interessen vertreten: CDU, CSU, FDP, Grüne, Piraten, neuerdings die AfD. Wenn auch noch die SPD in deren rechte oder linke Mitte drängt, dann wird es dort ungemütlich und fängt vielleicht sogar ein bisschen an zu stinken.

Wittenberg:

Die AfD hat im Prinzip nur einen einzigen Programmpunkt.

Monica:

Vielen Wählern genügt das vollkommen.

Wittenberg:

Es handelt sich allerdings um die Gretchenfrage: Wie hältst Du es mit der Türkisierung, Kurdisierung, Arabisierung, Islamisierung und Orientalisierung des Christlichen Abendlandes?

Monica:

Solche pauschalierende Redeweise und auch die alberne Unterscheidung zwischen „Morgenland“ und „Abendland“ halte ich für anachronistisch und für ideologisch. Das ist ein romantischer Unfug, der einer rationalen Analyse keine fünf Minuten standhält, nicht wahr, mein Freund?

Wittenberg:

Meiner Ansicht nach sind zum Islam mindestens drei Dinge vorsichtig und vorläufig vorzutragen:

Erstens handelt es sich um eine widerspruchsvolle Religion, die sich zum Guten, aber auch zum Bösen auslegen lässt. Darin ähnelt der Islam dem Christentum, das zwischen dem alttestamentarischen Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ und dem neutestamentarischen oder jesuanischen Prinzip der „Feindesliebe“ seinen Weg in die Moderne finden musste.

Zweitens ist der Islam eine frauenverachtende, frauenfeindliche Ideologie. Auch darin ähnelt er dem Christentum. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Ausspruch des Apostels Paulus, wonach das Weib in der Gemeinde zu schweigen habe.

Drittens hat sich der Islam vom siebenten nachchristlichen Jahrhundert an zu einer autoritären Gesellschaftslehre entwickelt, die auf den ersten Blick vollständig unvereinbar mit den liberalen und demokratischen Prinzipien der kapitalistischen Staaten Europas zu sein scheint. Saudi-Arabien indes, dessen grauenvolle Herrschaftsmethoden geradezu als Musterbeispiel für staatlichen Terrorismus dienen können, gilt als treuer „Verbündeter“ des Westens und wird von dessen Rüstungskonzernen kontinuierlich mit Waffen fast aller Art beliefert. — In Saudi-Arabien steht auf „Übertritt zum Christentum“ die Todessstrafe.

Monica:

Was autoritäre Staatlichkeit anbelangt, können wir Deutschen als Erfinder und Mitbegründer des SS-Staates sicherlich ein sachverständiges Wörtchen mitreden.

Wittenberg:

Du siehst, eine Antwort auf die Flüchtlingsproblematik lässt sich nicht logisch herleiten. Im Endeffekt handelt es sich um die Frage nach den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, welche für und wider die Geflüchteten wirken.

Monica:

Hast du von den 600 Ratten gehört?

Wittenberg:

Hier in Spandau?

Monica:

Nein, im Labor!

Wittenberg:

Was denn für ein Labor?

Monica:

Genau weiß ich es auch nicht; ich glaube, es handelte sich um ein Labor von Verhaltensforschern.

Wittenberg:

Und was wurde experimentell untersucht?

Monica:

Den Versuchsratten wurde ein bestimmtes Territorium zugewiesen. Es war gerade so groß, dass 600 Ratten darauf einvernehmlich miteinander leben konnten. Durch das artgerecht bemessene Platzangebot sollten Unruhen und Beißereien unter den Tieren vorerst möglichst vermieden werden. Dann begannen die Experimentatoren damit, die Rattenpopulation auf dem Testfeld systematisch zu erhöhen.

Wittenberg:

Das Ergebnis mag ich mir lieber nicht bildlich vorstellen.

Monica:

Es kam, wie es kommen musste: Die autochthonen Ratten fielen ab einem bestimmten Prozesspunkt des Experiments über die ahnungslosen Neuankömmlinge, die allochthonen Ratten, her und bissen sie tot.

Wittenberg:

Die Verhaltensforscher hatten es genau darauf angelegt.

Monica:

Schon, aber das eigentlich interessante Versuchsergebnis war, dass nach den höllischen rättischen Bartholomäusnächten allmählich wieder Ruhe einkehrte. Nachdem die Population sich auf die ursprünglich vorhandene Rattenanzahl von etwa 600 eingependelt hatte, hörten die Feindseligkeiten auf.

Wittenberg:

Es gibt einen Unterschied zwischen Menschen und Ratten.

Monica:

Hoffentlich!

Wittenberg:

Die Anatomie der menschlichen Destruktivität ist komplizierter, komplexer und entzieht sich simplen verhaltenstheoretischen Ausdeutungen.

Monica:

Aber brandstiftende Teutonen, die Flüchtlingsunterkünfte angreifen, kommen in ihrem Verhalten den um sich beißenden Rattenvorkämpfern aus dem Labor bedenklich nahe, meinst du nicht?

Wittenberg:

Ich weiß es nicht, Monica. Dein Rattenexperiment ist mir nicht geheuer. Ich mag es als Argumentationsgrundlage nicht akzeptieren. Etwas in mir sträubt sich regelrecht dagegen.

Monica:

Vielleicht sollten wir danach googlen?

Wittenberg:

Überflüssig.

Monica:

Aber wenn sich diese Dinge nun wissenschaftlich belegen lassen?

Wittenberg:

Dann sind wir immer noch nicht viel schlauer.

Monica:

Wir könnten eventuell Prognosen wagen?

Wittenberg:

Mit Prognosen ist es bekanntlich schwierig, besonders, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen.

Monica:

Wir müssten das Rattenhafte in uns besser unter Kontrolle bekommen.

Wittenberg:

Ich weigere mich, mich als eine anthropomorphe Ratte analysieren zu lassen, Monica, das geht mir ganz entschieden zu weit.

Monica:

Kleiner Feigling!

Wittenberg:

Es wird Regen geben.

Monica:

Glaubst du wirklich?

Wittenberg:

Weißt du nicht, dass ich ein begnadeter Wetterprophet bin?

Monica:

Das muss mir bislang dummerweise entgangen sein, Wittenberg.

Wittenberg:

Im Zusammenleben mit schizoiden Persönlichkeiten ist man vor Überraschungen niemals ganz sicher.

Monica:

Wenn ich ehrlich bin, ich habe immer lieber als amerikanisch Kolonisierte im Westen gelebt. Ich wäre nicht im Traum auf die Idee verfallen, nach Ost-Berlin zu gehen, um dort vielleicht zu studieren.

Wittenberg:

Aber nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich viele bedeutende Künstler und Intellektuelle ganz bewusst für ein Leben in der DDR entschieden.

Monica:

Die verstörende Erfahrung des Krieges, die uns glücklicherweise fehlt.

Wittenberg:

Wahrscheinlich hätte die Führung der SED Schriftstellern wie Stefan Heym mehr Vertrauen schenken sollen?

Monica:

Meiner Meinung nach war die elende SED strukturell unfähig, überhaupt irgend jemandem Vertrauen entgegenzubringen.

Wittenberg:

Auf ihre vertrackte, soziopathische Weise entwickelte sich die SED nach dem Zusammenschluss aus SPD und KPD in Ostdeutschland im Grunde zu einer weiteren Erscheinungsform einer sozialdemokratischen Partei, die sich allerdings sozialistisch und kommunistisch gebärdete. Sie wollte das einfache Volk in dem im Aufbau befindlichen, von Mangelwirtschaft geprägten Sozialismus vorsichtshalber möglichst umfassend beherrschen.

Monica:

Sie konnte gar nicht anders, Wittenberg, das staatstragende Erbe und Ethos der deutschen Sozialdemokratie erwies sich einmal mehr als unüberwindlich.

Wittenberg:

Schade, eigentlich …

Monica:

Aber leider kaum mehr zu ändern, mein tapferes Schneiderlein. Die deutschen Sozialisten haben ihre historische Chance vertan; eine zweite werden sie nicht bekommen.

Wittenberg:

Sie haben auch keine zweite Chance verdient, Monica, sie werden im postpolitischen Niemandsland verschwinden.

Monica:

„Postpolitik“ ─ das ist auch wieder bloß so ein Schlagwort, unter dem jeder das verstehen mag, was er gerne möchte.

Wittenberg:

Ich will versuchen, es an einem kleinen Beispiel zu erläutern. Der Intendant der „Volksbühne“ am Rosa-Luxemburg-Platz soll geschasst werden. Es ist evident, dass damit eine ostberlinische Theatertradition nahezu vollständig destruiert werden würde, die sich auf die besseren Seiten des Theaters der Weimarer Republik berufen darf, die also mit Namen wie Brecht, Busch, Eisler, Mehring, Piscator, Kortner, vielleicht auch Zuckmayer verbunden ist, eines Theaters also mit prinzipiell unberechenbaren politischen und sozialrevolutionären Tendenzen. Überaus interessant ist nun zu beobachten, wie der Regierende Bürgermeister von Berlin, der Sozialdemokrat Müller,  solch einen fiesen Hinausschmiss in Szene setzt: Er lobt öffentlich die enormen Verdienste des Intendanten, preist dessen über Jahrzehnte geleistete Theaterarbeit, nicht zuletzt zum geistigen Wohle und zum kulturellen Ruhm unserer geliebten Heimatstadt, und fährt dann fort: Aber jetzt sei es an der Zeit, „auch anderen Menschen einmal eine Chance zu geben“. Damit verlässt der Bürgermeister unauffällig, aber höchst effektiv die Ebene des politischen, hier: kulturpolitischen Diskurses und schwenkt ein auf das niedrigere Niveau des Geredes vom allgemein Menschlichen. „Postpolitik“ könnte in solchen Zusammenhängen bedeuten, dass sich die Aufregung der Bevölkerung beispielsweise über sozialdemokratische Kulturpolitik dieses Kalibers in überaus engen Grenzen hält. Man kümmert sich nicht. Es ist den Leuten egal. Sie haben wichtigere Dinge zu besorgen.

Monica:

Der Staat fordert den Kopf eines Intellektuellen, und das Volk schläft seelenruhig seinen Rausch aus.

Wittenberg:

Übrigens habe ich unterwegs in der Bahn weiter in „Zwei Fremde im Zug“ gelesen.

Monica:

Dass du dermaßen viel kostbare Lebenszeit mit Kriminalschmökern verschwendest, Wittenberg, ich fasse es nicht!

Wittenberg:

Es handelt sich vielmehr um einen bemerkenswerten Roman über eine der wahrscheinlich merkwürdigsten Männerfreundschaften der ganzen bisherigen Literaturgeschichte.

Monica:

Geschrieben von einer Amerikanerin, erschienen etwa 1950, und bekanntlich verfilmt von Alfred Hitchcock.

Wittenberg:

Wobei natürlich Hitchcock und seine Drehbuchautoren, zu denen leider auch Raymond Chandler gehörte, sich des schmählichsten Verrats an ihrer literarischen Vorlage schuldig gemacht haben. Denn im Roman von Patricia Highsmith, knallhart konstruiert, begehen die beiden „Fremden im Zug“ jeder den Mord des anderen, Bruno erwürgt die Ehefrau von Guy, und Guy erschießt den Stiefvater von Bruno. Zwei    Morde ohne erkennbares Motiv, schwierig bis unmöglich aufzuklären.

Monica:

Aber dann halten sich die beiden Mörder nicht an ihre eigenen Pläne und Absprachen. Sie bleiben in Kontakt miteinander, lassen sich gemeinsam in der Öffentlichkeit sehen; sie werden schließlich erst für die Freunde gehalten, die sie in Wirklichkeit schon lange sind, und endlich als Komplizen erkannt und geächtet.

Wittenberg:

Guy hebt sogar die Mordwaffe als Souvenir auf.

Monica:

Wie James Stewart zu Kim Novak in „Vertigo“ schon sagte: „Man sollte niemals ein Souvenir an einen Mord aufheben.“

Wittenberg:

Kim Novaks verdammte Halskette!

Monica:

Du erinnerst dich?

Wittenberg:

Und ob ich mich erinnere! Ich bin damals extra bis nach Dahlem gefahren, zum Capitol, als der Film von den Hollywoodbossen endlich nach Jahrzehnten wieder freigegeben worden war.

Monica:

Die Frage der Psychologie könnte nun lauten: Warum haben Bruno und Guy sich nicht klüger verhalten? Wieso sind sie zusammen zum Essen gegangen? Wieso hat Bruno Guy eine wunderschöne Krawatte geschenkt? Wieso war Guy das furchtbar peinlich?

Wittenberg:

Meiner Meinung nach sollte man aber nicht den Fehler begehen, die beiden Mörder zu latenten Homosexuellen zu stempeln.

Monica:

Nein?

Wittenberg:

Nein!

Monica:

Aber Guy spricht es ziemlich unumwunden aus. Erinnerst du dich nicht?

Wittenberg:

Er sagt: „Danke.“

Monica:

Und er denkt dabei?

Wittenberg:

Guy fühlt ein unangenehmes Zucken in der Oberlippe, und er denkt dabei: „Als ob er Brunos Liebhaber wäre, dem Bruno ein Geschenk mitgebracht hätte ─ als Versöhnungsgabe.“

Monica:

Homosexualität, Depression, Wahnsinn, Mord.

Wittenberg:

Alkohol nicht zu vergessen …

Monica:

Patricia Highsmith war, glaube ich, keineswegs so unpolitisch, wie es den Anschein haben könnte. Sie führte immer wieder mittels verschiedenartiger Konstellationen vor: Man kann so ziemlich jeden Menschen fertigmachen, ihn erpressen, ihm Angst einjagen, ihn in den Wahnsinn treiben und ihn am Ende zum Mörder werden lassen. Und sie wirft gleich in „Zwei Fremde im Zug“ die Frage auf: „Was sonst hält die totalitären Staaten zusammen?“

Wittenberg:

Schwüles, drückendes Wetter macht mir neuerdings schwer zu schaffen. Ich muss dann richtiggehend darum kämpfen, meine Gedanken beieinander zu halten.

(11.08.2016)